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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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tiefgezogenen Hut verbarg, war sie vor Entdeckung sicher. Eine halbe Stunde später wurde sie bereits Zeugin eines armseligen Hahnenkampfes irgendwo in den Gassen am Hafen. Nachdem sich die Hähne, zerrupfte Veteranen vieler Kämpfe, gegenseitig blutig gehackt hatten und der Sieger feststand, schlenderte Leah weiter.
    Sie hatte kein bestimmtes Ziel, ließ sich einfach treiben und gelangte schließlich auf die Straße an der Telok-Ayer-Bucht. Sie brauchte nicht lange zu suchen, um den Tempel zu finden, der sie vor nunmehr zehn Monaten bei der Ankunft in Singapur so fasziniert hatte. Um nicht aufzufallen, setzte sie sich gegenüber des Tempels in den Staub und gab vor, zu dösen, während sie, verborgen unter dem Hut, die Keramikdrachen auf dem Dachfirst, die grimmigen Wächterfiguren auf den Türen und die glubschäugigen Steinlöwen musterte. Vielstimmiges Lachen lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Nach einem bedauernden Blick auf die Tempeltore – sie wäre gern hineingegangen, wusste aber nicht, wie sie sich drinnen zu verhalten hätte – lenkte sie ihre Schritte zu der Ursache des Gelächters, einem von Kulis umringten Gaukler, der ein Äffchen an einer Kette mit sich führte. Die jungen Männer im inneren Kreis hatten sich im Schneidersitz im Staub niedergelassen, diejenigen weiter außen lehnten gegen Warenballen oder Fässer, und einer hatte gar einen Fahnenmast aus Bambus erklommen, um nur ja nichts zu verpassen. Leah setzte sich etwas abseits auf einen Bretterstapel. Mit ausdrucksstarken, eines Theaterschauspielers würdigen Gesten deklamierte der Mann einen langen Text. Leah staunte über seine kräftige Stimme, die so gar nicht zu dem mageren Körper passen wollte. Bald hatte er sie ebenso in den Bann geschlagen wie den Rest des Publikums, vielleicht fünfzig oder sechzig Männer, die meisten jung, sehr jung, die Münder und Ohren weit aufgesperrt. Sogar einige chinesische Frauen einer gewissen Profession hatten sich eingefunden, doch selbst ihre bemalten Gesichter und engen, hochgeschlitzten Kleider vermochten die Kulis nicht von dem Geschichtenerzähler in ihrer Mitte abzulenken. Allerdings waren auch die Frauen so verzaubert, dass sie ganz und gar vergaßen, den Männern schöne Augen zu machen.
    Leah konnte sich nicht sattsehen an der lachenden, weinenden, seufzenden, mitfiebernden Menge; vor ihrem inneren Auge entstanden bereits die Kompositionen zukünftiger Zeichnungen. Am liebsten hätte sie gleich hier skizziert, aber das war unmöglich, binnen Minuten hätte sich die Nachricht von der Anwesenheit einer weißen Mem, die Chinesen malte, wie ein Lauffeuer verbreitet.
    Irgendwann hatte auch die längste Geschichte ein Ende. Nach einer kurzen Pause, in der die Zuhörer ein wenig benommen aus der heraufbeschworenen Traumwelt auftauchten, ergriff der Geschichtenerzähler die Kette seines Äffchens und machte die Runde. Niemand zierte sich, selbst die Ärmsten ließen kleine Münzen in die Büchse fallen, die das Äffchen ihnen entgegenstreckte. Leah fischte nach ihrem in den Hosenbund geklemmten Beutel. Ohne hinzusehen, wählte sie eine Münze und warf sie hinein. Einen Moment lang herrschte Stille. Leah spähte in die Büchse und erkannte zu ihrem Schrecken, dass sie einen ganzen Spanischen Silberdollar, eines der vielen Zahlungsmittel in der Handelsstadt Singapur, hineingeworfen hatte – eine Summe, die ein einfacher Kuli niemals entbehren konnte. Sie wagte einen Blick unter dem Strohhut hervor und sah direkt in die schwarzen Augen des Geschichtenerzählers. Er verzog keine Miene, und doch spürte sie, dass er sie entlarvt hatte. Er ging weiter.
    Ein Zittern ergriff Leahs Leib, all ihr Mut verließ sie. War sie hier wirklich sicher? Was wäre, wenn der Mann sie preisgab? Sie wagte nicht, es sich auszumalen. Plötzlich erschienen Leah die Mienen der Kulis, die sie noch vor wenigen Minuten so fasziniert hatten, voller Arg und Hinterhältigkeit. Sie wollte sich gerade unauffällig davonstehlen, als das Äffchen ihr den Strohhut vom Kopf riss. Der Geschichtenerzähler war ebenso perplex wie Leah. Stimmen erhoben sich, ein Raunen pflanzte sich fort bis in die letzten Reihen, wurde lauter, aufgeregter, die ersten traten einen Schritt vor, dann noch einen und noch einen. Leahs Puls raste. Hinter ihr schwappte der Ozean, vor ihr flutete ein Meer aus Leibern heran, alle Fluchtmöglichkeiten waren abgeschnitten. Was sollte sie nur tun? Sie öffnete den Mund, brüllte, man möge sie in Ruhe lassen, und

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