Die Insel der Orchideen
und stieß die Haustür auf. Ihre Mutter wankte ihr entgegen.
»Wie geht es Leah?«, krächzte Johanna angstvoll. »Was ist mit dem Kind?«
Alwine Uhldorffs Augen wirkten stumpf, sie schien binnen Stunden um Jahre gealtert. Die Ereignisse der Nacht hatten tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben. »Tot«, sagte sie. Tonlos berichtete sie von dem Entsetzlichen. Kurz nachdem Johanna das Haus verlassen hatte, seien Leahs Wehen in immer schnellerer Folge gekommen, bis sie schließlich in Ohnmacht gefallen sei. Ihr Körper hätte auch ohne ihren Verstand die Geburt vorangetrieben, und wenig später sei das Kind gekommen.
»Ein Mädchen«, murmelte die Mutter. »Viel zu klein und dünn. Es hätte wohl ohnehin keine Überlebenschance gehabt. Vielleicht ist es besser so. Barsha hat den Körper bereits fortgebracht.«
»Fortgebracht? Wohin? Auch wenn es nicht getauft ist, müssen wir es doch christlich begraben!«
Das Leben kehrte in Alwine Uhldorffs Augen zurück. »Über diesen unglückseligen Abend wird kein Wort nach draußen dringen, auch nicht an den Reverend, hörst du? Leah ist nie schwanger gewesen! Nur so werden wir jemals einen Mann für sie finden.«
Ein ungeheuerlicher Verdacht keimte in Johanna auf, doch sie biss sich auf die Zunge. Niemals würde ihre Mutter so weit gehen, ihr eigenes Enkelkind zu töten. So etwas durfte sie nicht einmal denken. Die Mutter hielt ihrem forschenden Blick stand. Vielleicht ahnte sie, was in Johanna vorging, denn als sie wieder zu sprechen anhob, war ihre Stimme sanft.
»Geh bitte hinauf, ich habe keine Kraft mehr. Leah geht es den Umständen entsprechend gut, aber sie darf nicht ohne Aufsicht sein. Die Nachgeburt ist da, die Blutungen sind beinahe versiegt. Sie wird bald das Bewusstsein wiedererlangen und Beistand brauchen. Wenn überhaupt ein Mensch ihr nahekommen kann, dann bist du es.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen und zerstreuten Johannas Befürchtungen. »Das arme Kind«, schniefte sie, ohne dass klarwurde, ob sie ihre Tochter oder das tote Neugeborene meinte.
11
Mai 1860 , vier Monate später
D er Jubel strömte wie die auflaufende Flut durch die Straßen, floss durch die Gassen und Gänge und erreichte schließlich auch die Sago Street. Tausende Kehlen lachten, riefen Glückwünsche und Zoten, nur Leahs Mund blieb verschlossen. Onkel Koh legte seine Hände zärtlich auf ihre Schultern und brachte seinen Mund an ihr Ohr. Erst beim dritten Anlauf gelang es ihm, den Lärm zu übertönen.
»Sollten wir nicht besser gehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum tust du dir das an?«
Leah antwortete nicht. Er hätte ihre Gründe ohnehin nicht verstanden. Sie musste sich ihre große Liebe ein für allemal aus dem Herzen reißen. Vier fürchterliche Monate waren vergangen, seit ihr kleines Mädchen tot zur Welt gekommen war. Die Trauer um das Kind hatte sie endgültig in einen Abgrund geworfen. Sie magerte ab und verließ ihr Zimmer nur, wenn es unbedingt nötig war. Das Schweigen, mit dem sie Johanna, die Mutter und Friedrich strafte, ließ sich nicht mehr brechen, selbst wenn sie gewollt hätte.
Ohne Onkel Kohs Briefe hätte sie wohl kaum ins Leben zurückgefunden. Ausführlich berichtete er ihr von den kleinen Freuden und dem großen Leid im chinesischen Viertel. Anfang April hatte sie sich mit Lims Hilfe zum ersten Mal wieder aus dem Haus gestohlen und Onkel Koh besucht. Von ihm hatte sie auch von Boon Lees Rückkehr drei Wochen zuvor erfahren. Heute, am Sohjar Tiga Hari, dem dritten Tag seiner zwölf Tage dauernden Hochzeitsfeier, an dem das Brautpaar mit großem Gefolge durch die Straßen zog, würde sie ihn zum ersten Mal seit jenem Unglückstag vor einem Jahr sehen.
Ganz Teluk Ayer war auf den Beinen, um die Hochzeit des reichsten Erben der Stadt mit einer chinesischen Prinzessin zu feiern. Zumindest behaupteten die Gerüchte, sie sei eine Prinzessin, doch Onkel Koh glaubte es nicht. Eine adelige chinesische Familie hätte selbst ihre jüngste Tochter nicht an einen Händler, einen Emporkömmling, verschachert, daran änderte auch die Handelsflotte der Chees nichts.
Am Aufgang der Straße brach ein Tumult aus. Helfer drängten die Menschen auseinander, um eine Gasse zu bilden, ein Gong wurde geschlagen, dann erblickte Leah zwei rote, mit Stickereien und Fransen geschmückte Zeremonienschirme über den Köpfen der Menschen. Sie knirschte mit den Zähnen, bis ihre Kaumuskeln schmerzten. Als ein Helfer sie beiseiteschieben wollte, fuhr sie ihn so harsch an,
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