Die Insel der Orchideen
dazu durchgerungen, das Kind nicht wegzugeben, sondern im Haus aufzuziehen. In der Hoffnung, dass man dem Baby die gemischte Herkunft nicht ansah, wollte man behaupten, seine chinesische Mutter sei im Kindbett gestorben, und man hätte Lim, dem Vater, aus Großmut erlaubt, es ins Haus zu bringen. Aus Zuneigung zu Leah hatte sich Lim sofort bereit erklärt, die Scharade mitzuspielen. Leah wiederum, vor vollendete Tatsachen gestellt, hatte sie alle nur verächtlich angesehen und sich wortlos wieder in ihr Zimmer zurückgezogen.
Abermals schrie Leah. Hoffentlich war es bald vorbei. Die Geburt, die Heimlichtuerei, einfach alles. Wie gern hätte sich Johanna jemandem mitgeteilt, doch das war natürlich nicht möglich. Niemand außer dem engsten Kreis, bestehend aus ihr, Friedrich, der Mutter, Lim und der Ajah Barsha, die der Mutter bei der Geburt beistand, durfte je davon erfahren, was heute im Haus vorging. Es traf sich gut, dass Mercy gemeinsam mit ihren Zwillingen Carl und Roy für einige Monate nach Indien gereist war, um einer kranken Verwandten beizustehen. Es war kein Problem gewesen, Leahs Zustand vor dem beruflich stark eingespannten Andrew Robinson zu verbergen, doch Mercy mit ihrem sechsten Sinn für Klatsch, Tratsch und Skandale hätten sie kaum hinters Licht führen können. Sie würde noch genügend unbequeme Fragen stellen, wenn sie in vier Wochen zurückkehrte.
Ein Schnaufen lenkte Johannas Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Sohn. Er litt schon den ganzen Tag unter Verdauungsstörungen, und jetzt gesellte sich ein Fieber hinzu. Zärtlich strich sie dem Einjährigen über die verschwitzte Stirn und malte sich aus, wie er und Leahs Kind in wenigen Jahren durch den Garten tollen würden. Eine wunderschöne Vorstellung.
Vorsichtig, um Hermann nicht zu wecken, stieg sie mit ihm die Treppe hinauf und legte ihn in seine Wiege. In Leahs Zimmer war es jetzt still. Sie schlüpfte hinein und stellte sich hinter ihre auf einem Stuhl sitzende Mutter. Die Inderin Barsha kniete neben dem Bett und tupfte Leah den Schweiß von der Stirn. Die Schwester hatte den Kopf zur Wand gedreht und atmete schwer. Sie wirkte entrückt, gefangen in der harten Arbeit, ein Kind zu gebären.
»Brauchst du etwas?«, flüsterte Johanna ihrer Mutter zu.
»Nein.«
»Wie steht es?«
Alwine Uhldorff seufzte. »Barsha sagt, das Kind liegt richtig. Es wird aber noch eine Weile dauern. Die Wehenabstände sind lang.« Sie wandte den Kopf und lächelte Johanna müde an. »Es wird schon gutgehen.«
Johanna nickte beklommen. Es beunruhigte sie, dass kein Arzt zugegen war, doch in diesem Punkt hatte die Mutter nicht nachgegeben. Leah sei jung, hatte sie Johannas Einwände unwirsch beiseitegewischt, Johanna selbst verstünde einiges von Krankenpflege, und Barsha hätte ihr versichert, schon bei mehreren Geburten im indischen Viertel geholfen zu haben. Sie kämen durchaus ohne Arzt zurecht, der mit Sicherheit den Mund nicht würde halten können.
In den nächsten zwei Stunden geschah kaum etwas, wenn man von Leahs herzzerreißenden Schmerzensschreien absah, die in immer kürzer werdenden Intervallen die abendliche Stille zerschnitten. Friedrich war noch nicht zurück, wahrscheinlich hatte er im Teutonia-Klub Zuflucht gesucht, nachdem seine Schwiegermutter ihm eine Nachricht ins Kontor gesandt hatte, sobald Leah ihre ersten Wehen bekam. Johannas Sohn war mittlerweile nicht mehr zu beruhigen. Sein Fieber stieg stetig, er weinte zum Gotterbarmen. Johanna war so mit Hermann beschäftigt, dass sie erst aufmerkte, als die Mutter ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Fahr mit ihm zu Dr. Thomas«, sagte sie leise.
»Es ist spät. Er schläft sicher schon.«
»Dann wecke ihn. Es ist mir lieber, ich weiß Hermann in guten Händen. Ich möchte mir heute nicht auch noch Sorgen um deinen Sohn machen müssen. Ich bestehe darauf«, fügte sie hinzu, als Johanna den Kopf schüttelte.
Eine halbe Stunde später saß Johanna in Dr. Thomas’ Praxiszimmer, während Lim in der Mietkutsche vor der Tür wartete. Der Arzt war glücklicherweise noch nicht zu Bett gegangen und erklärte sich sofort bereit, Hermann zu untersuchen. Er konnte Johanna letztendlich beruhigen. Hermann litt unter einer einfachen Erkältung, die mit Ruhe, Geduld und Hühnerbrühe auszutreiben sei. Erleichtert machte sie sich eine Stunde später wieder auf den Heimweg.
Unheilvolle Stille lastete über dem Haus. Johanna drückte Lim ihren fiebrigen Sohn in die Arme, hastete auf die Veranda
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