Die Insel der Orchideen
Hilferuf in Johannas Ohren, wieder und wieder schoben sich die furchterregenden Schatten vor die Schwester, verbargen ihr weißes Gesicht und die flehend erhobenen Hände. Johanna lehnte sich an die Hauswand und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Blicklos starrte sie auf den mächtigen Tamarindenbaum im Zentrum des Gartens. Vor ihrem inneren Auge sah sie plötzlich sich selbst. Ausgelassen tanzte sie mit Leah im strömenden Regen, die bloßen Füße klatschten ins nasse Gras. Leah drehte sich um die eigene Achse, die Arme weit ausgebreitet, als wollte sie sich in die Lüfte erheben.
Nun war die Schwester fort, vielleicht tot. Der Traum konnte nur ein schlechtes Omen sein, beinahe körperlich hatte sie die Gefahr gespürt, in der sich Leah befand, und sie wurde irre an ihrer eigenen Ohnmacht. Johanna presste die Handballen auf ihre Augen, zwang sich, noch einmal in die Abgründe ihres Alptraumes zurückzukehren in der Hoffnung, einen Hinweis auf Leahs Aufenthaltsort zu finden, doch alles blieb unklar, verschwommen, selbst Leahs Gesicht nur ein heller Fleck, der schnell vergraute und sich schließlich im Schwarz auflöste.
»Was tust du hier?«
Johanna nahm die Hände herunter. Sie hatte Friedrich nicht kommen hören, und nun stand er direkt vor ihr, barfüßig und im Schlafhemd. Mit einer Mischung aus Besorgnis und Ärger blickte er auf sie herab.
»Ich habe geträumt«, murmelte sie. »Von Leah. Es war fürchterlich.« Hilflos sah sie zu ihrem Gatten auf. »Nimm mich in den Arm«, bat sie.
Er reagierte nicht. »Du musst damit aufhören«, sagte er. »Leah ist auf und davon. Unser Leben geht auch ohne sie weiter.«
Johanna hoffte, sich verhört zu haben, doch in Friedrichs Augen las sie die Ablehnung, die sein Verhältnis zu seiner Schwägerin immer geprägt hatte, deutlicher denn je. »Wie kannst du so etwas verlangen?«, fragte sie heftig. »Leah ist kaum zwei Wochen fort. Wenn sie nun ermordet wurde?«
»Dann hätte man ihre Leiche gefunden.« Der sachliche Ton seiner Stimme ließ Johanna frösteln. »Aber weder die Polizei noch die Leute des Kapitan Cina haben eine Spur von ihr entdeckt. Und auch nicht die Hoey-Kumpane ihres sogenannten Freundes.« Das letzte Wort spuckte er regelrecht aus. »Sie war immer undankbar, aber du wolltest es ja nie wahrhaben.«
»Sie war nicht undankbar. Nur anders.« Johanna dachte an die Worte des Geschichtenerzählers. »Und unglücklich. Sie hat ihren Geliebten und ihr Kind verloren. Wer wäre da nicht am Boden zerstört?«
»Ach ja?« Sein Ton wurde beißend. »Sie verdient dein Mitleid nicht, Herrgott noch mal. Wir alle haben das Menschenmögliche getan, um ihren Ruf zu retten, es gab sogar Heiratskandidaten. Und was tut sie? Verschwindet ohne ein Wort, ohne eine Zeile. Willst du wissen, was ich denke?« Er wartete Johannas Erwiderung nicht ab. »Sie will, dass du dich quälst. Sie weiß genau, dass du nie aufhören wirst, dich ihretwegen zu sorgen.«
»Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung. Sie ist meine Schwester.«
»Eine schöne Schwester«, sagte er. »Kannst du dich überhaupt noch erinnern, wann sie das letzte Mal ein Wort an dich gerichtet hat? Vergiss sie, Johanna, so schnell wie möglich!«
»Das kann ich nicht.«
»Verdammt!« Johanna sah, wie sich seine Fäuste in schnellem Rhythmus öffneten und schlossen. »Leah bekommt nur, was sie verdient.«
Das war zu viel. Johanna schoss hoch. »Was sie verdient?«, schrie sie zornig. »Dass ihr Gewalt angetan werden könnte, sie vielleicht getötet wird – das hat sie verdient?«
»Sie hat die Gefahr ohne Not herausgefordert.«
»Du willst sie nicht verstehen!« Blind vor Zorn stürzte sie sich auf ihren Mann, trommelte mit den Fäusten auf seine Brust, bis er sie heftig an sich zog und sie ihre Arme nicht mehr bewegen konnte. Sie spürte seine Lippen an ihrem Ohr.
»Siehst du?«, flüsterte er. »Die Saat geht schon auf. Wir müssen zusammenhalten. Wir dürfen nicht zulassen, dass Leah einen Keil zwischen uns treibt.« Er zögerte kurz. »Ich liebe dich doch.« Es war wie ein Aufschrei, und er umklammerte sie umso fester. Johanna wurde die Luft knapp. Heftig stemmte sie sich gegen seine gewaltsame Umarmung, und endlich gab er nach. Mit hängenden Schultern stand er vor ihr.
»Entschuldige meine harschen Worte«, sagte er müde. »Ich weiß doch, wie viel sie dir bedeutet. Aber ich bin am Ende meines Lateins. Wir sollten nicht mehr darüber sprechen, wir müssen vergessen, Johanna. Es ist das
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