Die Insel der Orchideen
Soldaten warf sie über die Schulter wie einen Sack Reis. Leahs letzter Blick fiel auf den blutgetränkten Ärmel des Hauptmanns. Wenigstens hatte sie sich nicht kampflos ergeben.
Die Soldaten schleppten sie quer durch die Stadt zur Fuerza de Santiago, der Festung am südöstlichen Zipfel von Intramuros. Man warf sie in eine nach menschlichen Ausdünstungen stinkende Zelle und schloss die Tür hinter ihr. Es war stockdunkel, doch Leah hörte das Schnaufen und Atmen mehrerer Menschen. Sie tastete ihre Umgebung ab und stieß auf magere Gliedmaßen und Lumpen. Rascheln und Scharren erklang, dann schob eine schmale Hand sie gegen eine Wand. Es fiel kein Wort, doch sie verstand: Die Menschen in der Zelle waren zusammengerückt, um ihr einen Schlafplatz zu schaffen.
Die Nacht war endlos. Leah stellte Fragen, doch niemand war des Malaiischen, Chinesischen oder gar Englischen oder Deutschen mächtig. Der Triumph, den sie beim Anblick des verletzten Hauptmanns empfunden hatte, wich nach und nach der vernichtenden Erkenntnis, dass sie schon wieder eine Dummheit gemacht hatte. Und diesmal würde es nicht gut ausgehen.
Im Morgengrauen öffnete sich die Tür. Wasser und dünne Suppe wurden hereingereicht. Leah erschrak, als das Dämmerlicht ihr den jammervollen Zustand ihrer Kerkergenossen offenbarte. Sollte man sie hier vergessen, so wurde ihr schlagartig bewusst, wäre es ihr sicheres Ende. Sie stürzte sich auf den Soldaten mit dem Suppentopf, zwang ihn schreiend, ihr ins Gesicht zu sehen, und tatsächlich schnellten seine Brauen erstaunt nach oben, als er in ihr eine Europäerin erkannte. Ein Stakkato unverständlicher Fragen ergoss sich über sie, während Leah immer wieder den einzigen spanischen Satz wiederholte, den sie bisher gelernt hatte: »No hablo español.« Ich spreche kein Spanisch. Irgendwann wurde es dem Soldaten zu viel. Er stieß Leah zurück in den Kerker und verriegelte die Tür. Die Schritte mehrerer Männer entfernten sich, es wurde still. Leah stand erst verloren in der Dunkelheit, dann tastete sie sich zurück zu ihrem Platz und rollte sich zusammen wie ein kranker Hund. Erinnerungen an die vergangenen Jahre stürmten auf sie ein. Der Tod des Vaters. Die glücklichen Stunden mit Boon Lee. Johannas Verrat. Die Schwangerschaft und ihre Freude auf das Kind. Die entsetzliche Leere nach der Geburt. Ihr totes Mädchen. Sie schluchzte auf. Sie würde verrecken. In einem stinkenden, dampfenden Loch in einer Stadt, die sie nie hatte betreten wollen.
Jemand strich ihr vorsichtig über Haar und Rücken. Leah ließ es geschehen. Ihre Kraft war aufgezehrt. Wenn es Gottes Wille war, sie schon jetzt mit ihrem Kind zu vereinen, dann sollte es so sein.
* * *
Nie hatte Koh Kok seinen Vermieter aufgeregter gesehen. Noch bevor er den Fuß in die Werkstatt setzte, kam ihm der Mann, einen hellen Umschlag schwenkend, entgegen.
»Für dich!«, rief er. »Aber ich kann nicht lesen, von wem.«
Koh Koks Magen verkrampfte sich. Ohne ein Wort riss er dem Tischler den Brief aus der Hand und warf einen Blick auf die Adresszeile. Seine Hände begannen zu zittern.
»Nun sag schon. Stammt der Brief von ihr?«
Koh Kok nickte. »Es ist ihre Schrift. Warte.« Er riss den Umschlag auf, entfaltete den Brief und überflog ihn, während der Tischler ungeduldig neben ihm von einem Fuß auf den anderen trippelte.
Koh Kok ließ das Blatt sinken.
»Du weinst?«, flüsterte der Tischler. »Ist etwas Schlimmes passiert? Nun rede schon!«
»Sie schreibt, es ginge ihr gut. Von Singapur aus sei sie nach Manila gesegelt und hätte dort eine Passage nach Kalifornien gebucht.« Erneut studierte er das Blatt. »Sie ist bereits seit einer Woche unterwegs.«
Die beiden Männer sahen sich an. Erleichtert über das Lebenszeichen, aber auch ratlos, was den Inhalt des Briefs betraf.
»Kalifornien?«, fasste der Tischler seine Zweifel in Worte. »Was will sie dort?«
»Ein besseres Leben. Unser Kleiner Sperling wollte immer fliegen.« Koh Kok stieß einen Seufzer aus. »Ich würde gern glauben, was hier steht.«
Wieder schwiegen sie, und abermals sprach der Tischler zuerst. »Es wird uns nichts anderes übrigbleiben«, sagte er.
Kaum eine Stunde später stand Koh Kok vor dem Haus in der Waterloo Street. Er war überrascht, wie heimelig und einladend es wirkte, hatte er es sich doch aufgrund von Leahs Schilderungen immer als einen kalten, unpersönlichen Ort vorgestellt. Kinderlachen erklang von jenseits der üppig blühenden Hibiskushecke,
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