Die Insel der Orchideen
musste gehen. Ihre Ersparnisse reichten gerade für ein Ticket dritter Klasse in einen der nähergelegenen Häfen des Archipels und dann? Eine neue Anstellung, eine neue Abhängigkeit? So, wie es aussah, musste ihr Traum noch eine lange Weile auf Erfüllung warten. Erneut klopfte Mevrouw van Vollenhofen gegen die Kammertür. Leah seufzte tief auf.
Innerhalb weniger Minuten hatte sie ihr altes Kleid übergestreift und ihre wenigen Habseligkeiten in der sackartigen Tasche verstaut, die sie schon seit Singapur begleitete. Sie nahm ihr Gepäck auf, streckte den Rücken durch und marschierte aus der Tür, den Gang hinunter und durch die Dienstbotentür in den hinteren Garten. Noch war ihr niemand begegnet, doch als sie um die Hausecke bog, um zur Straße zu gelangen, verstellte Mijnheer van Vollenhofen ihr erneut den Weg. Mit finsterer Miene reichte er ihr einen kleinen Beutel. Verdutzt griff Leah danach.
»Sie werden niemals über diesen Vorfall reden, haben wir uns verstanden? Verlassen Sie Makassar, verlassen Sie Sulawesi, sonst werde ich dafür Sorge tragen, dass Sie in ganz Niederländisch-Ostindien keine Anstellung mehr bekommen«, sagte er kalt. »Fort mit Ihnen!«
Es war Schweigegeld. Im ersten Moment wollte Leah es ihm an den Kopf werfen, doch dann besann sie sich und schloss die Hand um den Beutel. Er war schwer. Sie schob Mijnheer van Vollenhofen ohne ein weiteres Wort zur Seite und stolzierte hocherhobenen Hauptes durch den Garten. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen.
Sobald sie auf die Straße trat, war ihr, als löse sich eine eiserne Spange von ihrer Brust, die ihr in den vergangenen sechs Monaten die Luft abgeschnürt hatte. Leah schritt aus, um möglichst schnell das holländische Viertel mit seinen weißgetünchten Häusern zu verlassen. Bevor ein großer Rambutan-Baum ihr die Sicht versperrte, drehte sie sich noch einmal um. Und richtig, aus einem der oberen Fenster beugten sich die beiden Mädchen der van Vollenhofens und winkten ihr nach. Sie winkte zurück. Sie hatte die Kinder gemocht, und es tat ihr gut zu wissen, dass wenigstens diese beiden sich mit Wohlwollen an sie erinnern würden.
Ein letztes Mal salutierte der wachhabende Soldat, als Leah an ihm vorbei durch das Tor in der Mauer trat, die das holländische Viertel vor den Einheimischen abschirmte. Kaum fünfzig Meter vor ihr schwappte der Ozean gegen das Ufer, eine leichte Brise verfing sich in ihrem Rock und presste ihn gegen ihre Beine. Vor dem Hintergrund der dicht an dicht an der Kaimauer vertäuten Schiffe aus allen Teilen des Archipels entfaltete sich der ganze Trubel einer orientalischen Hafenstadt. Leah sog die salzige, fischige, teerige Luft ein. Ein unverhofftes Glücksgefühl durchflutete sie. So roch das Leben.
Sie fing den neugierigen Blick einer rundgesichtigen Matrone mit mandelförmigen Augen und hellbrauner Haut auf, die in ihrer Jugend eine umwerfende Schönheit gewesen sein musste. Die Frau kauerte vor einem kleinen Kohlebecken und briet Pisang Epe, in Palmzucker gewendete Bananen. Leah lächelte ihr zu und erntete ihrerseits ein breites, schwarzrot verfärbtes Betel-Lachen. Leahs Stimmung hob sich schlagartig. Sie überlegte kurz, ob sie sich ein Zimmer im einzigen für Europäer schicklichen Hotel der Stadt nehmen sollte, entschied sich aber dagegen, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Im chinesischen Viertel fand sich mit Sicherheit eine günstige Unterkunft.
Und so war es. Zwar ließ die Sauberkeit ein wenig zu wünschen übrig, doch der Preis war lächerlich gering und würde Leahs Ersparnisse kaum angreifen, selbst wenn sie mehrere Wochen blieb. Sie dachte an das Geld von Mijnheer van Vollenhofen. Noch hatte sie nicht überprüft, wie viel ihm ihr Schweigen wert war, und als sie nun den Beutelinhalt auf das Bett schüttete, gingen ihr die Augen über. Ihr eigentliches Ziel, Hongkong, rückte endlich wieder in greifbare Nähe.
Es klopfte an der Tür. Leah breitete hastig das Laken über ihren plötzlichen Reichtum und öffnete zögernd. Vor der Tür warteten der betagte Hotelbesitzer und eine Frau in seinem Alter. Die beiden standen sehr nahe beieinander, was darauf schließen ließ, dass sie ein Ehepaar waren, obwohl die Frau dem Aussehen nach aus Sulawesi oder Borneo stammte.
»Sie wünschen?«
»Wir bitten vielmals um Entschuldigung«, sagte der Mann, »es liegt ganz und gar nicht in unserer Absicht, Sie zu stören, aber …« Er wusste offensichtlich nicht weiter und sah seine Frau
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