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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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hilfesuchend an.
    »Es ist doch Weihnachten«, sagte diese eifrig. »Wir sind Christen, und da wollten wir Sie fragen, ob Sie uns zum Gottesdienst begleiten. In einer Stunde brechen wir auf.«
    Die Freundlichkeit der beiden umfing Leah wie eine Umarmung. In all den Monaten ihres Umherirrens, selbst im modrigen Verlies der Spanier, waren ihre Augen trocken geblieben, doch nun trübten Tränen ihren Blick.
    »Ich komme gern mit«, antwortete sie gerührt. »Ich mache mich nur schnell frisch.«
     
    Leahs Gastgeber hatten darauf bestanden, die Hauptkirche zu besuchen, und natürlich waren auch die van Vollenhofens zugegen. Ein Raunen ging durch die versammelte holländische Gemeinde, als Leah in Begleitung eines Chinesen und einer Dayak-Frau – mittlerweile hatte sie erfahren, dass die Gattin des Hotelbesitzers eine ehemalige Sklavin aus Borneo war – das Kirchenschiff betrat und sich gemeinsam mit ihnen in eine der letzten, den asiatischen Christen vorbehaltenen Bänke quetschte. Marijke und Geertje, die nicht damit gerechnet hatten, ihre eigenwillige Gouvernante jemals wiederzusehen, drehten während des gesamten Gottesdienstes immer wieder die Köpfe und ließen sich auch von ihrer empörten Mutter nicht davon abhalten. Leahs Anwesenheit in der vermeintlich falschen Bank brachte auch den Pastor durcheinander. Mehrmals verhaspelte er sich, und seine sonst so tadellose Singstimme wirkte etwas angekratzt.
    Leah dagegen fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit am richtigen Platz. Warum hatte sie es nicht früher begriffen? Alles Unbill der letzten Monate war von Europäern ausgegangen, während die Asiaten ihr stets mit Achtung und Zuneigung begegneten. Zu ihnen gehörte sie, hatte sie immer gehört.
    Sie versuchte, sich auf die Predigt zu konzentrieren, doch ihre Gedanken schweiften ständig ab. Jetzt, da sie es sich endlich leisten konnte, nach Hongkong zu reisen, drängte sich ein anderer Wunsch mit Macht in den Vordergrund. In letzter Zeit hatte sie häufig an Alfred Russel Wallace gedacht, jenen interessanten Wissenschaftler, in dem dasselbe Feuer brannte wie in ihr selbst. Zwar war er Europäer, aber in gewisser Weise stand auch er neben der Gesellschaft; er verbrachte seine Zeit in der Wildnis ausschließlich mit Einheimischen und war sich, wie sie aus seinen Erzählungen wusste, nicht zu fein für Freundschaften mit Asiaten. Ihm konnte sie vertrauen. Auch hatte er Verwendung für ihre Fähigkeiten: Sammeln, zeichnen, beschreiben, katalogisieren – darin hatte sie es zu akzeptablem Wissen und Können gebracht, hinzu kam ihr Sprachtalent. Durch gelegentliche kurze Meldungen in der Zeitung wusste sie, dass Wallace noch immer im Archipel unterwegs war, aber nicht, wo er sich aufhielt.
    Sie schloss die Augen. Um sie herum brandete »Er is een roos ontsprongen« auf. Leah summte leise mit. Während das Lied ihr Herz hob, festigte sich eine vage Idee zu einem Entschluss: Sie würde sich auf die Suche nach Wallace machen. Dass er seinen Forschungen überall zwischen Papua und Penang nachgehen konnte, schreckte sie nicht. Wenn Gott wollte, dass sie ihn fand, würde er es fügen. Natürlich hatte sie keine Gewissheit, dass Wallace sie tatsächlich in seine Dienste nahm, aber darüber konnte sie sich noch Gedanken machen, wenn sie ihn aufgespürt hatte.
    Im Kopf addierte Leah ihre Ersparnisse und das Vollenhofsche Schweigegeld. Wenn sie vorsichtig wirtschaftete, vermochte sie davon mindestens ein Jahr zu überleben. Hinzu kamen eventuelle Erlöse aus Portraitzeichnungen. Auch unter den Asiaten fanden sich stolze Familienväter, die ihre Frauen und Erben gegen einen angemessenen Obolus oder auch nur ein warmes Mahl zeichnen ließen.
    Leah verließ die Kirche als Erste. Mittlerweile war es dunkel geworden. Sie stellte sich etwas abseits, um eine Begegnung mit den van Vollenhofens zu vermeiden. Im Grunde war schon der Kirchgang ein unnötiger Affront gewesen, aber es ließ sich nicht mehr ändern. Die van Vollenhofens mussten sich ohnehin eine Geschichte überlegen, warum sie schon wieder ohne Gouvernante waren. Während Leah auf ihre Begleiter wartete, legte sie den Kopf in den Nacken und betrachtete den südlichen Sternenhimmel. Sie war nicht imstande, die Sternbilder zu benennen, nur eines erkannte sie: das Kreuz des Südens. In Singapur war es bereits zu sehen gewesen, doch hier, südlich des Äquators, dominierte es in seiner klaren Geometrie das Firmament.
    Ihre Erinnerung brachte Leah nach Hamburg, auf die

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