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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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Schultern ihres Vaters. Ein wehmütiges Ziehen ließ sie trotz der Wärme erschauern. Sie war fünf Jahre alt, vielleicht sechs. Nach dem Kirchgang waren sie von St. Michaelis zurück in die Caffamacherreihe gelaufen. Schnee hatte unter den Schuhen des Vaters geknirscht. Er hatte ihr den großen Wagen gezeigt, den Skorpion und die Waage. Und dann waren sie gegen eine Mauer gelaufen und hingefallen. Was hatte die Mutter geschimpft! Was hatten sie gelacht!
    Zum zweiten Mal an diesem Tag rann eine Träne ihre Wange hinab. Siehst du mich?, fragte sie in Gedanken ihren Vater. Hältst du die Hände über deine Tochter?
    Eine schüchterne Berührung am Arm holte sie zurück in die Wärme der tropischen Weihnacht. Leah wischte sich die Tränen aus den Augen und schlenderte mit dem Wirtsehepaar zurück zum Hotel. Als sie an einem einladend aussehenden moslemischen Fischrestaurant mit angeschlossenem Garten vorbeikamen, steuerte Leah ihre überraschten Gastgeber hinein. Die Makassaresen waren Meister in der Zubereitung von frischem Fisch, den sie mit einer dicken Soße aus Gemüse, Kräutern und Gewürzen reichten. Sie wollte gern in Ruhe mit dem Ehepaar sprechen, und hier war sie vor den missbilligenden Blicken der Holländer sicher. Kurz darauf zerlegte sie mit Appetit die auf Bananenblättern servierten Schnapperfische, während sie ihren verdutzten Gastgebern ihre Absichten auseinandersetzte.
     
    Schon vier Tage später, am 29 . Dezember des Jahres 1860 , stand Leah in praktischer chinesischer Männerkleidung an Bord der Dschunke
Li Rong,
während die weißen Häuser von Makassar immer kleiner wurden. Der Nordost-Monsun hatte in den letzten Wochen an Stärke zugenommen und schrieb ihnen eine südliche Route vor. Nach Flores und Timor sollte es gehen, um Sandelholz zu kaufen, und dann, wenn der Wind im Frühjahr erlahmte, zurück nach Norden. Leah war es gleich. Sie würde so lange an Bord bleiben, bis sie Wallace gefunden hatte. Wallace oder eine andere Bestimmung.
    Schaumige Gischt spritzte bis zum Deck. Leah duckte sich nicht fort, beugte sich stattdessen weit über die Reling hinaus. Ihr Haar klebte feucht an ihrem Kopf, die Kleidung war durchnässt. Mit einem wilden Schrei nahm sie die Taufe entgegen. Voller Dankbarkeit schickte sie ein kurzes Gebet gen Himmel. Alles hatte sich so wunderbar gefügt, dass Leah davon überzeugt war, das Schicksal honoriere endlich ihren Mut und ihre Unverzagtheit. Tatsächlich hatte ihr chinesischer Gastgeber sie noch am zweiten Weihnachtstag einem vertrauenswürdigen chinesischen Kapitän vorgestellt, und nachdem der Mann seine anfängliche Verblüffung über Leahs Bitte verdaut hatte, erklärte er sich nach langem Diskutieren dazu bereit, sie an Bord zu nehmen, und zwar, wie sie es wollte, nicht als Passagierin, sondern als Teil der Mannschaft. Hätte der Mann sofort zugesagt, wäre Leah wohl zurückgeschreckt, zu deutlich stand ihr die Nacht auf dem englischen Schmugglerschiff vor Augen, als sie sich schon geschändet und sogar tot gesehen hatte. Doch der Chinese wog ernsthaft alles Für und Wider gegeneinander ab, und letztendlich gab wohl der Reiz des Außergewöhnlichen für ihn den Ausschlag.
    Und so war sie am gestrigen Abend der ebenso misstrauischen wie neugierigen Mannschaft als die neue Köchin vorgestellt worden. Der Kapitän hatte unmissverständlich klargestellt, dass jeder, der Leah Schwierigkeiten machte, mit empfindlicher Bestrafung zu rechnen hatte.
    Mochte die Zukunft ungewiss sein, mochten an den jenseitigen Ufern Schwierigkeiten auf sie lauern, deren Ausmaß sie nicht überblickte – für den Moment erlaubte sich Leah keine Sorgen.
    * * *
    Der Nachmittag in Singapur verstrich in träger Faulheit, wie man sie nur in den Tropen erlebt, wenn die Luft schwer ist von Düften und Fäulnis zugleich, wenn sie zum Greifen dick scheint und den Menschen bei jeder Bewegung den Schweiß aus allen Poren brechen lässt. Johanna hatte sich in ihren Korbstuhl zurückgelehnt, eine Näharbeit auf dem Schoß, die wohl noch Wochen auf ihre Vollendung warten musste. Mercy und Alwine waren eingenickt, und Friedrich las bereits zum zehnten Mal dieselbe Seite seiner Zeitung. Ping und Siti, Mercys malaiische Ayah, hatten sich mit untergeschlagenen Beinen im Schatten der Hauswand niedergelassen und zerlegten leise schwatzend eine riesige Jackfrucht, die jedem deutschen Preiskürbis den Rang streitig gemacht hätte.
    Lediglich Hermann und die Robinson-Zwillinge tobten unbeeindruckt von

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