Die Insel der roten Erde Roman
ist, sagte sie sich. Aber warum tut es dann so weh?
Nachdem die Mädchen zu Abend gegessen und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten, wünschte Amelia Evan eine Gute Nacht und verließ das Haus. Doch statt zu ihrer Baracke lenkte sie ihre Schritte zu dem verborgenen Platz zwischen den Felsen, den Gabriel ihr vor langer Zeit gezeigt hatte. Ein nahezu voller Mond schien und leuchtete ihr den steilen, felsigen Weg. Als sie oben angekommen war, blieb sie stehen und schaute aufs Meer hinaus. Es war wirklich ein magischer Ort. Sie würde ihn stets in Erinnerung behalten – genauso, wie sie Gabriel Donnelly niemals vergessen konnte.
Während sie versonnen das bleiche Licht des Mondes auf dem Wasser betrachtete, überkam sie ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Sie besaß keinerlei Erinnerungen an Angehörige oder Freunde, und ihre Liebe zu Gabriel hatte keine Zukunft. Abgesehen von den Finnlays hatte sie niemanden auf der Welt. Stärker als je zuvor hatte sie das Gefühl, nirgendwohin zu gehören. Sie war eine verlorene Seele, die in einer Zwischenwelt umherirrte. Tiefe Traurigkeit befiel sie. Wie leicht es wäre, allem Schmerz ein Ende zu machen. Sie brauchte sich nur von den Klippen in die Tiefe zu stürzen. Kein Mensch würde sie vermissen. Tränen in den Augen, machte sie einen zögernden Schritt nach vorn. Noch zwei Schritte, und alles Leid hätte ein Ende …
»Sarah!«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr.
Einen Augenblick hielt sie die Stimme für Einbildung, doch als sie sich umdrehte, sah sie Gabriel dastehen. Er hatte ihr geheimes Versteck aufgesucht, weil er sich seiner Sarah nahe fühlen wollte; nicht im Traum hätte er damit gerechnet, sie hier anzutreffen.
»Gabriel!«, rief sie überrascht und erfreut zugleich. Im Mondlicht konnte sie erkennen, wie ernst, ja betroffen er dreinblickte. Sie sehnte sich danach, dass er sie in die Arme nahm und ihr sagte, alles würde gut, und dass er sie genauso liebte, wie sie ihn, doch Carlottas Worte hallten ihr noch im Ohr. Sie wusste, es war ein frommer Wunsch. Gabriel empfand nicht das Gleiche wie sie.
»Du weißt, dass wir von hier fortziehen, nehme ich an«, sagte sie kaum hörbar.
Er nickte.
»Ich kann kaum glauben, dass ich von hier weggehe«, fuhr sie fort und versuchte, sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen.
»Ohne dich wird es hier sehr trostlos sein«, flüsterte er heiser. Seit er wusste, dass sie fortgehen würde, konnte er kaum noch einen klaren Gedanken fassen. »Du … du fehlst mir jetzt schon.«
Amelia sah ihn erstaunt an. »Aber bevor ich hierher kam, warst du doch zufrieden mit deinem Leben.«
»Da kannte ich dich noch nicht.«
»Was willst du damit sagen?«
Gabriel machte einen Schritt auf sie zu. Der Wunsch, sie in die Arme zu nehmen, war übermächtig. »Ich habe noch nie für einen Menschen empfunden, was ich für dich empfinde. Jede Zuneigung, die ich irgendwann einmal verspürt habe, ist klein und unbedeutend, verglichen mit meinen Gefühlen für dich. Ich glaube, du bist die Liebe meines Lebens.« Vielleicht war es falsch, ihr sein Innerstes in diesem Moment zu offenbaren, doch die Magie dieser Sternennacht und die Furcht, ihr vielleicht nie mehr sagen zu können, was er empfand, ließen ihn seine Zurückhaltung vergessen.
Zwei Mal in seinem Leben hatte Gabriel gemeint, verliebt zu sein, doch jetzt war ihm klar, dass es beide Male keine Liebe, sondern nur eine Liebelei gewesen war.
»Oh, Gabriel …« Amelia hielt mühsam die Tränen zurück. Als er sie in die Arme nahm und ihre Lippen sich berührten, wurde sie schwach. Es war so leicht, in diesem Augenblick alles andere zu vergessen. Doch ihr Verstand blieb wach. Sie dachte daran, was sie getan und was Carlotta gesagt hatte, und schob Gabriel energisch von sich. »Ich brauche dich so sehr, aber das ändert nichts«, flüsterte sie unter Tränen. »Die Dinge sind, wie sie sind.«
»Das ist ein Irrtum, Sarah. Alles hat sich geändert – ich, du, unser beider Leben. So soll es auch sein, wenn man den einen Menschen findet, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen möchte.«
Amelia sah ihn verwirrt an. Hatte sie richtig gehört? »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Und ob es mein Ernst ist. Ich kann ohne dich nicht leben, Sarah. Sobald du deine Strafe verbüßt hast und ein freier Mensch bist, werde ich dich fragen, ob du mich heiraten willst.«
Sie sah ihm prüfend in die Augen. Er sagte die Wahrheit. Carlotta hatte Unrecht – Gabriel war nicht nur auf eine
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