Die Insel der roten Erde Roman
Sissie den Schemel wieder hin, hockte sich darauf und begann, die Kuh zu melken. Amelia hörte die Milch in den Eimer spritzen. Sie rappelte sich auf und schaute Sissie zu. Das Mädchen drückte die Zitzen zusammen und ließ die Hände gleichzeitig abwärts gleiten. Es sah kinderleicht aus. Nach ein paar Minuten stand Sissie auf, und Amelia versuchte erneut ihr Glück.
Zuerst wollte es nicht klappen, und sie hörte, wie Sissie ungeduldig seufzte. Dann aber schoss ein Milchstrahl in den Eimer, dann noch einer.
»Ich hab’s geschafft!«, jubelte Amelia. Als sie sich umdrehte, um sich bei Sissie zu bedanken, war das Mädchen verschwunden. Dass Sissie nicht gewartet und den Augenblick des Glücks mit ihr geteilt hatte, dämpfte ihre Freude. Mit einem resignierten Seufzer wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
Es dauerte ewig, bis der Eimer auch nur halb voll war, und Amelia konnte kaum noch die Hände bewegen. Als sie ihrem schmerzenden Rücken eine Pause gönnte und sich streckte, wurde die Kuh, die bisher brav stillgehalten hatte, unruhig. Sie schwang mit dem Hinterteil herum und stieß dabei gegen den Eimer. Amelia fing ihn blitzschnell auf, bevor er vollends umkippte. Trotzdem war fast alles verschüttet worden. Verzweifelt versuchte Amelia, noch ein bisschen Milch zu melken, doch die Kuh hielt nicht mehr still. Schließlich gab Amelia es auf und ging zum Haus zurück.
Evan zog gerade ein Fladenbrot aus der heißen Asche. Schweigend zerbrach er es und verteilte es unter seinen Kindern. Als er sah, wie viel Milch im Eimer war, lief sein Gesicht rot an.
»Ich hatte mehr, aber die Kuh hat den Eimer umgestoßen!«, rechtfertigte sich Amelia. Doch Evan seufzte nur und schüttelte den Kopf. Er goss die Milch in Becher und gab sie seinen Kindern. Amelia bekam ein kleines Stück Brot und einen Becher Wasser, wagte es aber nicht, sich zu beklagen.
»Hol Kartoffeln fürs Mittagessen«, befahl Evan ihr. »Kartoffeln wirst du ja hoffentlich kochen können, oder?«
Amelia nickte. Sie hatte noch nie Kartoffeln gekocht, wollte ihn aber nicht noch mehr verärgern.
»Sobald sie gar sind, setzt du einen Eintopf auf. Möhren, Zwiebeln und Pastinaken findest du im Gemüsegarten. Es ist noch Fleisch von dem Lamm da, das ich vor einigen Tagen geschlachtet habe. Ich werd’s dir bringen.«
Amelia brach der Angstschweiß aus. Sie konnte sich nicht entsinnen, jemals Eintopf gegessen, geschweige denn gekocht zu haben, doch sie sagte nichts. Als Evan fort war, ging sie nach draußen, um nach dem Wasser im Kessel zu sehen. Es war inzwischen lauwarm. Sie tauchte ihre kalten Hände hinein und seufzte behaglich und voller Vorfreude auf ihr Bad. Bestimmt würde es ihr danach viel besser gehen.
Eins der älteren Mädchen war ihr gefolgt.
»Wo finde ich einen Spaten für das Gemüse?«, fragte Amelia.
Das Mädchen ging ums Haus und kam mit einem Spaten zurück, den es Amelia wortlos reichte. Diese wunderte sich über das ausdruckslose Gesicht der Kleinen. Sie zeigte keine Neugier wie andere Kinder ihres Alters, und sie lächelte auch nicht. Offenbar war sie ein sehr ernstes Kind. Amelia vermutete, dass das Mädchen noch unter dem Tod der Mutter litt. Die Kinder taten ihr Leid. Sie lebten in dieser Abgeschiedenheit und hatten nur ihren Vater – einen kalten, abweisenden Mann, der seine Zuneigung nicht zeigen konnte. Nur bei seinem Sohn Milo, dem augenscheinlich sein ganzes Interesse galt, machte er eine Ausnahme.
»Weißt du, wo die Kartoffeln angebaut sind?«, fragte Amelia die Kleine.
Das Mädchen nickte und tappte zum Gemüsegarten. Selbst wenn Amelia die einzelnen Pflanzen und Gemüsesorten gekannt hätte, wäre es ihr schwer gefallen, sie unter dem üppig wuchernden Unkraut zu erkennen. Das Mädchen zeigte ihr die Kartoffelpflanzen und schaute dann zu, wie Amelia zu graben anfing.
Obwohl es vor kurzem geregnet hatte, war der Boden unter der obersten Schicht steinhart und das Graben entsprechend beschwerlich.
»Bist du Rose oder Bess?«, fragte Amelia.
»Rose«, antwortete das Mädchen. »Bess ist jünger als ich.«
»Dann bist du ungefähr zehn, stimmt’s?«
Rose nickte. »Warum warst du im Gefängnis?«, fragte sie dann.
Die direkte Art des Mädchens brachte Amelia einen Moment aus dem Gleichgewicht. Sie hätte gern entgegnet, dass alles ein schreckliches Versehen sei, aber wie sollte sie es dem Mädchen erklären? »Ich kann mich nicht daran erinnern, im Gefängnis gewesen zu sein. Ich habe das Gedächtnis
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