Die Insel der roten Erde Roman
nicht fertig. Milo ist müde. Sieh zu, dass er bald ins Bett kommt.« Damit verließ er das Haus.
Amelia seufzte. Es kränkte sie, daran erinnert zu werden, dass sie eine Strafgefangene war. Verstohlen blickte sie zu Rose, Bess und Molly hinüber. Die Mädchen machten Gesichter, als gäben sie ihr die Schuld daran, dass sie die neuen Nachbarn nicht begrüßen durften. Sissie hielt den Blick gesenkt.
Am anderen Morgen fiel Amelia auf, dass Evan sich gründlich gewaschen und ein sauberes Hemd angezogen hatte, obwohl es nicht Sonntag war. Sie wunderte sich, sagte aber nichts und ging wie gewohnt ihrer Arbeit nach. Als sie begann, ein weiteres Gemüsebeet vom Unkraut zu befreien, sah sie, wie Evan Milo auf den Arm nahm und in Richtung Leuchtturm davonstapfte.
»Dieser neugierige alte Trottel will doch bestimmt einen Blick auf die neuen Nachbarn werfen«, murmelte sie vor sich hin.
Im gleichen Moment nahm sie eine Bewegung hinter sich wahr und fuhr herum. Sissie stand hinter ihr. Amelia fragte sich, ob das Mädchen wohl die Bemerkung über ihren Vater gehört hatte.
»Wo will Papa denn hin?«
»Er geht in Richtung Leuchtturm, und er hat ein sauberes Hemd an. Du brauchst nur zwei und zwei zusammenzuzählen.«
Sissie überlegte kurz. »Er will den neuen Leuchtturmwärter und seine Frau kennen lernen.«
Amelia nickte. »Und da behaupten die Männer immer, wir Frauen wären neugierig!« Ob Sissie wohl enttäuscht war, dass der Vater sie und ihre Schwestern nicht mitgenommen hatte, wohl aber Milo? Amelia fand es ungerecht, wie sehr Evan seinen Sohn bevorzugte.
Amelia fuhr mit ihrer Arbeit fort, während Sissie und Rose heißes Wasser aus dem Kessel schöpften und ihre jüngeren Schwestern die Hühner fütterten und die Eier einsammelten. Danach machten die Mädchen sich ans Wäschewaschen. Amelia konnte es kaum glauben. Normalerweise gingen die Mädchen ihr nicht zur Hand.
Eine Stunde später kam Evan zurück. Er sagte kein Wort, zog das frische Hemd aus, streifte das alte vom Vortag wieder über und ging dann hinaus, um die restlichen Schafe zu scheren und Zäune zu reparieren.
Amelia war im Haus und hatte gerade das Gemüse geputzt, als die fünf Mädchen hereinkamen.
»Papa wird mindestens zwei Stunden fort sein«, sagte Sissie. »Und Milo hat er mitgenommen.«
Amelia lächelte. »Ganz recht. Na, wie wär’s – hättet ihr Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Die Mädchen erwiderten ihr Lächeln. »Au ja!«, rief Sissie. »Wir könnten zum Leuchtturm gehen.«
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Amelia ihr zu. »Ich will mich nur schnell ein bisschen frisch machen.«
»Kommt, das sollten wir auch tun«, forderte Sissie ihre Schwestern auf, und schon liefen sie in ihr Zimmer. Amelia eilte in ihre Hütte. So aufgeregt waren die Kinder nicht einmal gewesen, als Amelia auf die Farm gekommen war. Sie fragte sich, was Evan wohl über sie erzählt hatte.
Kurze Zeit später näherten sie sich ihrem Ziel. Als sie auf die Lichtung hinaustraten, die den Leuchtturm und die beiden Gebäude umgab, kamen Edgar Dixon und seine Frau gerade aus ihrem Haus.
»Hallo!«, rief Amelia.
»Guten Tag«, erwiderte Edgar. »Sie sind bestimmt von der Finnlay-Farm.«
»So ist es«, bestätigte Amelia und ging mit den Mädchen zu ihm.
»Ich bin Edgar Dixon, und das ist Carlotta, meine Frau.« In Edgars Lächeln lag Herzlichkeit. Amelia fiel sofort der Altersunterschied zwischen ihm und Carlotta auf. Er hätte glatt ihr Vater sein können.
Carlotta war klein, hatte eine gute Figur und pechschwarzes Haar. Sie lächelte Amelia knapp und frostig zu und taxierte sie mit abschätzigem Blick von Kopf bis Fuß. Den Kindern gegenüber gab Carlotta sich liebenswürdiger. Sie nannte sie bellissimi bambini .
»Ich bin … Sarah Jones«, stellte Amelia sich vor. Die Worte, die über ihre Lippen kamen, fühlten sich sonderbar an. »Das hier sind Cecelia, Rose, Bess, Molly und Jessie. Ich glaube, ihren Bruder Milo und ihren Vater Evan haben Sie bereits kennen gelernt …?«
»In der Tat. Eine reizende Familie«, erwiderte Edgar.
»Wir sind gekommen, um Sie auf der Insel willkommen zu heißen«, fuhr Amelia fort.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank.« Edgar lächelte.
Amelia schaute über das Kliff auf die Küste. Von hier oben hatte man einen wunderschönen Blick. Als Evan sie an jenem Morgen hinter sich her zu seiner Farm gezerrt hatte, hatte ihr nicht der Sinn danach gestanden, die Aussicht zu bewundern. »Was für ein
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