Die Insel der roten Erde Roman
in die Füße, und ihr wurde schwindlig.
»Unsinn!«, sagte Edna schroff. »Henley-on-Thames. Amelias Mutter und ich sind zusammen in South Oxfordshire aufgewachsen.«
»Oh«, machte Norma verwirrt. Normalerweise irrte sie sich nie, was die Zuordnung eines Akzents betraf.
»Ich hatte eine gute Freundin, die aus Bristol kam«, erklärte Sarah hastig und spürte, wie sie rot anlief. »Vielleicht hat ihre Aussprache auf mich abgefärbt.«
»Ja, so muss es wohl sein«, erwiderte Norma. »Wie ich hörte, ist vor Cape du Couedic ein Schiff gesunken. War es das, mit dem Sie gekommen sind?«, fragte sie mit unverhohlener Neugier.
»Ja, in der Tat«, antwortete Sarah, ängstlich bemüht, jede verräterische Sprachfärbung zu unterdrücken.
Edna überraschte es nicht, dass sich die Neuigkeit in der kleinen Stadt bereits herumgesprochen hatte. »Außer Amelia gab es nur eine weitere Überlebende beim Untergang der Gazelle . Lucy, Amelias Bedienstete, ist ebenfalls ums Leben gekommen.«
»O Gott!« Norma schlug entsetzt die Hand vor den Mund. »Das ist ja furchtbar!« Sie wusste von Edna, dass die junge Frau ihre Eltern und den Bruder verloren hatte und deshalb von ihren Vormündern aufgenommen wurde. Norma konnte kaum glauben, dass einem einzigen Menschen so viel Tragisches widerfuhr.
Edna kannte Norma nur zu gut: Sie war eine Klatschbase und hätte zu gern alle Einzelheiten über das Schiffsunglück erfahren. Doch dafür hatte Edna keine Zeit; es gab Wichtigeres zu tun. »Kommen wir zum Grund unseres Besuchs«, sagte sie und legte lächelnd den Arm um ihr Mündel. »Norma ist ein Genie, musst du wissen. Sie könnte sogar aus einem Tischtuch ein Ballkleid nähen!«
»Nun hören Sie aber auf, Edna«, wehrte Norma verlegen ab, freute sich aber sichtlich über das Kompliment.
»Nein, im Ernst, Amelia. Norma kann im Handumdrehen ein wunderschönes Kleid zaubern.«
Edna schmierte der Schneiderin tüchtig Honig um den Mund, und diese genoss die Schmeicheleien.
»Das ist sicher übertrieben, aber ich kann mich über mangelnde Arbeit weiß Gott nicht beklagen. Meine Familie erkennt mich fast schon nicht mehr, so selten komme ich nach Hause. William sagt immer, ich solle doch gleich im Atelier schlafen.«
»Nun, dann wird Ihre Familie Sie in der nächsten Zeit noch seltener zu Gesicht bekommen, fürchte ich«, sagte Edna. »Amelia braucht eine vollständige Garderobe. Sie hat beim Untergang der Gazelle alles verloren.«
Sarah konnte förmlich hören, wie die Ladenkasse in Normas Kopf klingelte. Offensichtlich war Edna eine gute Kundin.
»Wie ich schon sagte, ich habe im Augenblick viel zu tun. Mrs Francis hat mehrere Kleider bestellt, und Kapitän Cartwrights Frau hat mir ebenfalls einen größeren Auftrag erteilt. Und Sie kennen sie ja!«, fügte Norma vielsagend hinzu.
Sarah, die fünf Jahre in Gesellschaft von Taschendieben, Einbrechern und Betrügern verbracht hatte, durchschaute die Taktik der Schneiderin sofort: Sie versuchte, den Preis in die Höhe zu treiben.
»O ja, allerdings«, bestätigte Edna. »Dabei hat sie bereits so viele Sachen, dass man damit gut und gern drei Frauen auf Lebenszeit einkleiden könnte! Bei uns dagegen handelt es sich um einen Notfall, Norma. Sie sehen ja selbst, dass die arme Amelia alte Sachen von mir und geborgte Schuhe tragen muss.«
Norma spitzte die Lippen, ließ den Blick über Sarah schweifen und seufzte. »Na schön. Ich werde dafür sorgen, dass sie eine anständige Garderobe bekommt – auch wenn ich mir die Nächte um die Ohren schlagen muss und mir die Finger blutig arbeiten werde.«
Edna lächelte erleichtert. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Norma. Ich werde Ihre Mühe selbstverständlich angemessen honorieren.«
Ein Ausdruck tiefer Befriedigung erschien auf Normas Gesicht. »Gut, dann schlage ich vor, dass wir als Erstes Maß nehmen.« Sie suchte ein Stück Papier und etwas zum Schreiben und zog dann das Bandmaß, das sie umgehängt hatte, vom Hals.
Nachdem Farben und Muster ausgesucht waren, ging Edna mit Sarah ins Schuhgeschäft in der Murray Street, wo sie gleich mehrere Paar Schuhe kauften. Und im Textilgeschäft, das sie anschließend aufsuchten, erstanden sie mehrere Garnituren Unterwäsche. Sarah kam sich wie Aschenputtel vor, als sie, mit Päckchen beladen, nach Hause kamen. Sie wusste, es würde mit jedem Tag schwerer für sie werden, ihre Rolle als Amelia Divine aufzugeben. An dieses Leben konnte man sich gewöhnen.
Bereits wenige Tage später,
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