Die Insel der roten Erde Roman
am Samstagnachmittag, schickte Norma wie versprochen die ersten beiden Kleider vorbei. Weitere würden bald folgen, versicherte sie. Edna fand, passend zur neuen Garderobe sollte ihr Mündel nun auch eine schicke Frisur haben. Also wusch sie Sarah an diesem Abend die Haare und wickelte die Strähnen anschließend auf Stoffstreifen auf, die sie dann verknotete. Als die Stoffstreifen am anderen Morgen entfernt wurden und Sarah ihre Lockenpracht im Spiegel bewunderte, stieß sie einen Jubelschrei aus. Sie könne nicht glauben, sagte sie begeistert, dass die Frau mit den bezaubernden Locken, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, sie selbst sei.
»Aber Amelia!«, rief Edna befremdet aus. »Camilla hat dir doch sicher auch Locken gelegt!« Sie wusste aus den Briefen ihrer Freundin, dass diese ihre Tochter abgöttisch geliebt und über alle Maßen verwöhnt hatte.
»Oh! Äh … ja, natürlich, aber … das ist schon eine Weile her«, stammelte Sarah und wurde rot.
Edna runzelte verwirrt die Stirn. Der tödliche Unfall von Camilla und Henry lag doch noch gar nicht so lange zurück! »Hat deine Mutter dir denn nicht jeden Abend die Haare aufgedreht? Sie mochte Locken über alles.«
»Früher schon … als ich noch klein war«, erwiderte Sarah verlegen. »Als ich älter wurde, habe ich mir die Haare lieber hochgesteckt.«
»Nun ja, die Mode ändert sich halt. Aber so sehen deine Haare doch reizend aus, nicht wahr?«
»O ja, wunderschön.« Zum ersten Mal im Leben fand Sarah sich beinahe hübsch. Ihre scharf geschnittene Nase und die schmalen Lippen wirkten durch die Locken weicher. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht in Tränen der Rührung auszubrechen. Unwillkürlich dachte sie an die hässliche graue Haube, die zu ihrer Anstaltskleidung gehört hatte und die sie fünf Jahre lang hatte tragen müssen.
»Das Essen ist fertig!«, rief Polly. Es war Mittag, und Lance war gerade gekommen. Sarah verschlug es bei seinem Anblick förmlich den Atem, so attraktiv war er. Sie selbst trug eins ihrer neuen Kleider. Es war himmelblau und von schlichter Eleganz. Sie hatte auch die neue Unterwäsche und die neuen Schuhe an. Als Lance jedoch kein Wort darüber verlor, wie hübsch sie aussah, war sie enttäuscht. Da er an diesem Sonntagnachmittag etwas mit ihr unternehmen wollte, hatte sie immer wieder mit bangem Blick aus dem Fenster geschaut, ob das Wetter auch halten würde. Außerdem hatte sie gehofft, einen Blick auf Lance zu erhaschen. Er wohnte ja gleich nebenan.
»Guten Tag, alle miteinander«, rief Lance. »Das Wetter sieht gut aus, Amelia. Wir können nach dem Essen zu unserem Ausflug aufbrechen, wenn du möchtest.«
»O ja, sehr gern«, erwiderte sie rasch, bedauerte ihre Reaktion jedoch im nächsten Augenblick. Sie wollte nicht, dass sie sich verzweifelt anhörte und Lance dadurch vergraulte. »Natürlich nur, wenn du nichts Besseres vorhast. Ich möchte nicht, dass du dich verpflichtet fühlst«, fügte sie rasch hinzu.
»Tja, eigentlich hätte ich schon etwas Besseres zu tun«, meinte er.
Sarah machte ein langes Gesicht.
»Lance!«, tadelte Edna ihren Sohn.
Er grinste. »Ich hab nur Spaß gemacht, Mutter. Es wird mir ein Vergnügen sein, Amelia die Gegend zu zeigen.« Sie hatte sich wirklich Mühe gegeben mit ihrem Äußeren und sah recht nett aus. Aber selbst die raffinierteste Frisur und das hübscheste Kleid machten aus ihr nicht die Schönheit, die Lance erwartet hatte.
Sarah konnte seinen Tonfall nicht richtig deuten. War er nur höflich, weil er sich ihr gegenüber verpflichtet fühlte, nachdem er sie nun schon einmal eingeladen hatte? Oder brannte er darauf, ein paar Stunden mit ihr zusammen zu sein? Sie hoffte, dass Letzteres der Fall war.
Zum Essen gab es saftiges Lammfleisch und geschmortes Gemüse, doch Sarah brannte vor Ungeduld und brachte vor Aufregung kaum einen Bissen hinunter. Zum Nachtisch servierte Polly einen Reispudding, doch Sarah lehnte höflich ab.
»Fehlt dir was, mein Kind?«, fragte Edna. Ihr war aufgefallen, dass ihr Mündel im Gegensatz zu den vorangegangenen Tagen keinen rechten Appetit hatte.
»Nein, nein, alles in Ordnung, Tante Edna. Ich möchte nur nicht mit zu vollem Magen in der Kutsche sitzen, wenn Lance und ich nachher ausfahren.«
»Wir werden dir von dem Reispudding aufheben, bis du wieder da bist«, versprach Charlton.
Lance fuhr mit Sarah die Rawson Street hinunter bis zur Esplanade Road und weiter am Ufer entlang. Die Sonne schien, und eine leichte
Weitere Kostenlose Bücher