Die Insel der roten Erde Roman
Gabriel. »Das schaffe ich nicht ohne Hilfe. Glauben Sie, Sie finden allein zum Leuchtturm zurück, damit Sie Edgar bitten könnten, Seile und eine Trage hierher zu bringen? Er weiß, wo sich die Rettungsausrüstung befindet, ich hab’s ihm gezeigt.« Wenn er sich selbst auf den Weg machte, würde es Nacht sein, bis er mit Edgar zurückkäme. Jemand musste aber das Leuchtfeuer im Turm anzünden; außerdem wäre es zu gefährlich, die Leiche bei Dunkelheit heraufzuholen.
Amelia nickte. »Und was machen Sie unterdessen?«
»Ich werde versuchen, den Toten aus der Höhle zu ziehen. Das dürfte eine Weile dauern. Wir würden Zeit sparen, wenn Sie Edgar inzwischen holen könnten. Ich weiß, was ich da von Ihnen verlange, aber …«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Ich schaff das schon.«
»Sind Sie sicher?« Gabriel musterte sie besorgt. Er fürchtete, der Anblick des Toten könnte sie in ihrem labilen Zustand vollends aus dem Gleichgewicht bringen. Aber er konnte die Leiche auch nicht in der Höhle lassen. Die Verwesung schritt schnell voran, und bald würde man den Leichnam nicht mehr anfassen können, ohne dass er zerfiel. Gabriel überlegte kurz, ob er den Toten ins Meer zurückwerfen sollte. Doch dann würde er vielleicht ein zweites Mal angeschwemmt. Und wer immer dieser Mann gewesen war – er war einen einsamen, qualvollen Tod gestorben. Hatte er da nicht wenigstens eine würdevolle Bestattung verdient?
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen«, beruhigte Amelia ihn. Das Atmen fiel ihr immer noch schwer, und sie fror, doch Gabriel brauchte Hilfe – sie durfte ihn nicht im Stich lassen.
Er zog seinen Mantel aus und legte ihn ihr um die Schultern, damit sie es warm hatte. Sie versuchte ein schwaches Lächeln und wandte sich zum Gehen.
Als Amelia ein Stück gegangen war, verließ sie das bisschen Mut, das sie gehabt hatte. Ein Schwindelgefühl erfasste sie und sie bekam weiche Knie, zwang sich aber, weiterzugehen. Das Bild des Toten in der Höhle ließ sie nicht mehr los. Übelkeit erfasste sie, und sie musste sich übergeben. Doch sie gönnte sich keine Pause. Außer Atem und fast hysterisch vor Angst und Aufregung gelangte sie schließlich zum Leuchtturm. Sie eilte zum Haus der Dixons und hämmerte gegen die Tür.
Edgar schaute seine Frau verdutzt an. Wer mochte das sein? Als er öffnete, stand eine völlig aufgelöste, zitternde Amelia vor ihm.
»Was ist passiert?«, fragte Edgar beunruhigt und zog die junge Frau ins Haus. »Ist etwas mit Evan? Oder mit einem der Kinder?«
»Gabriel …« , stieß Amelia zwischen zwei Schluchzern hervor.
»Was ist mit ihm?« Als sie nicht sofort antwortete, weil sie nach Atem rang, sagte Edgar: »Gabriel ist nicht da, er macht einen Spaziergang.«
Sie nickte. »Ich weiß, er … er ist unten bei den … Felsen«, keuchte sie. Ihr Herz raste, und sie war schweißüberströmt, weil sie fast den ganzen Weg bergauf gerannt war.
Carlotta zog ihr den Mantel von den Schultern. »Der gehört Gabriel«, sagte sie zu ihrem Mann. Dann packte sie Amelia am Arm und schüttelte sie. »Wo ist er? Was ist mit ihm?«
»Er … braucht Hilfe«, stieß sie atemlos hervor.
Da sie nach Luft schnappte und immer noch schluchzte, konnten die Dixons sie nicht verstehen. Plötzlich schlug Carlotta ihr ins Gesicht. Amelia taumelte zurück.
»Was tust du denn da?«, rief Edgar.
»Gabriel könnte verletzt sein und unsere Hilfe brauchen, und sie steht da und heult wie eine bambina «, schimpfte Carlotta.
Amelia war fassungslos. Sie hielt sich ihre brennende Wange und starrte die Italienerin offenen Mundes an.
Edgar schenkte ein Glas Wasser ein, reichte es Amelia und drückte sie sanft auf einen Stuhl. »Lass Sarah in Ruhe«, zischte er seiner Frau zu. An Amelia gewandt, fügte er hinzu: »Trinken Sie einen Schluck, und beruhigen Sie sich. Versuchen Sie, die Luft anzuhalten.«
Amelia gehorchte. Obwohl ihre Wange immer noch brannte, fühlte sie sich ein wenig besser. »Gabriel ist bei den Remarkable Rocks«, sagte sie zu Edgar. »Wir sind in eine Höhle geklettert und da …« Das Bild des schrecklich zugerichteten Toten stieg vor ihr auf. Nie zuvor hatte sie etwas derart Grauenvolles gesehen. Sie schauderte. »Und da …«
»Und da?«, drängte Edgar behutsam.
»Und da haben wir … eine Leiche entdeckt. Gabriel möchte, dass Sie kommen und ihm helfen, den Toten zu bergen. Sie sollen Seile und die Trage von der Rettungsausrüstung mitbringen.«
Carlottas Augen waren schmal geworden vor
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