Die Insel der roten Erde Roman
Nährstoffe und sondern beim Absterben eine schwache Säure ab. Aber es wird ein paar Millionen Jahre dauern, bis die Felsen vollständig zerfallen sind.«
Amelia fand es traurig, dass es die Felsen eines Tages nicht mehr geben würde. Ihr wurde bewusst, wie kurz ihr eigenes Leben war, verglichen mit diesen vorgeschichtlichen Felsen oder gar dem Planeten Erde. Der Gedanke, ihr Leben in dieser Ungewissheit, in der sie sich befand, zu verschwenden, versetzte sie geradezu in Panik.
»Ich muss herausfinden, wer ich bin«, stieß sie unvermittelt hervor. Ihre Stimme klang verzweifelt.
Gabriel wusste nichts darauf zu erwidern. Offensichtlich litt sie furchtbar unter ihrer Situation. Fühlte sie im tiefsten Innern, dass etwas nicht in Ordnung war? Oder wollte sie nicht akzeptieren, dass sie eine Verbrecherin war, die ihre gerechte Strafe verbüßen musste?
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, sagte er: »Da drüben gibt es eine Höhle. Sollen wir sie uns ansehen?«
»Wo ist denn der Eingang?«
Gabriel zeigte zum Meer hinunter, wo die Kuppel sich zur Brandung hin abflachte. »Da unten. Es hat nicht geregnet, und der Fels ist nicht allzu schlüpfrig, also können wir’s riskieren. Geben Sie mir Ihre Hand!«
»Sind Sie sicher?«, fragte Amelia. Obwohl sie Vertrauen zu ihm hatte, zögerte sie. Sie konnte sich zwar nicht an das Schiffsunglück erinnern, erkannte aber instinktiv, wo Gefahren lauerten.
»Ich werde nicht zulassen, dass Ihnen etwas passiert«, versicherte Gabriel ihr und streckte die Hand aus.
Amelia zauderte immer noch. »Schlagen die Wellen nicht in die Höhle?«, fragte sie ängstlich.
»Nur bei einem schweren Sturm und rauer See. Aber heute ist die See ruhig, wie Sie sehen.«
Amelia kämpfte gegen ihre Furcht an. »Hätten wir nur nicht von Haien und dem Schiffsuntergang geredet! Das hat mich ganz verunsichert.« Die Erinnerung, die für einen Sekundenbruchteil aufgeblitzt war, hatte sie zutiefst aufgewühlt. »Aber wenn Sie sagen, es wird nichts passieren, dann glaube ich Ihnen«, fügte sie mit fester Stimme hinzu. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen, was sie als gutes Zeichen wertete.
Nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, ergriff sie die ausgestreckte Hand, und sie machten sich an den Abstieg. Gabriel half ihr auf den gesimsähnlichen Vorsprung vor dem Höhleneingang hinunter. Es war düster im Innern der etwa drei Meter breiten und gut anderthalb Meter hohen Felsgrotte. Ein atemberaubender Blick bot sich ihnen: Es war, als ob man aus einem Fenster aufs Meer schaute.
»Was für ein herrlicher Blick! Aber es stinkt hier drin …« , sagte Amelia und hielt sich die Nase zu.
»Ja, Sie haben Recht.« Gabriel sah sich verwundert um. Den üblen Geruch hatte er bisher noch nie bemerkt. Plötzlich entdeckte er die Ursache und schrak unwillkürlich zusammen.
Amelia drehte sich um. Gabriel versuchte noch, sie daran zu hindern, doch es war zu spät. Sie hatte die Leiche bereits gesehen und stieß einen Entsetzensschrei aus. Gabriel nahm sie in die Arme. Er spürte, wie sie zitterte.
Der Tote im hinteren Teil der Höhle war sehr groß. Der rechte Unterschenkel war ihm abgerissen worden. Man konnte den Knochen und zerfetzte Sehnen sehen; auf dem Boden war ein großer dunkler Fleck, offenbar getrocknetes Blut. Obwohl der Körper bereits in Verwesung übergegangen war, spiegelte sich noch immer ein Ausdruck blanken Grauens auf den Zügen des Mannes. Gabriel hatte geglaubt, der entsetzliche Gestank rühre von einem Robben- oder Vogelkadaver her. Niemals hätte er damit gerechnet, eine Leiche vorzufinden. Die Meeresströmung hätte sie eigentlich in die andere Richtung treiben müssen.
»Was … was ist mit ihm passiert?«, schluchzte Amelia. »Und wo kommt er her?«
»Er muss an Bord der Gazelle gewesen sein. Ich vermute, ein Hai hat ihm das Bein abgerissen. Entweder konnte er sich in die Höhle retten, oder er war bereits tot, und eine Welle hat ihn hier hereingespült. Falls er noch gelebt hat, muss er verblutet sein.« Seine Verletzung war zu schwer gewesen, als dass er die geringste Chance gehabt hätte; das erkannte Gabriel auf einen Blick.
Amelia stand unter Schock. Sie zitterte am ganzen Körper, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Gabriel führte sie aus der Höhle und half ihr die Felsenkuppel hinauf. Gierig zog sie die frische Luft ein, um den Geruch des Todes aus der Nase zu bekommen. »Wir müssen den Toten bergen, damit wir ihn bestatten können«, sagte
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