Die Insel der roten Erde Roman
zu bewahren.
»Was haben Sie denn, Betty?«, fragte sie scheinbar gelassen.
Betty antwortete nicht, sondern eilte weiter zu ihrem Haus. Sarah blickte ihr nach. Was konnte Betty schon gegen sie unternehmen, wenn sie bei ihrer Geschichte blieb? Sie hatte keinerlei Beweise. Solange die echte Amelia nicht nach Kingscote kam – und wie sollte sie? –, hatte sie nichts zu befürchten.
Abermals tauchte vor Sarahs innerem Auge die winzige Gefängniszelle auf. Wenn es auch nur den Anschein hat, dass Betty mir auf die Schliche kommt, werde ich sie aufhalten, dachte sie. Egal wie! Ihr Blick wanderte zum Steilhang an der Küste hinüber.
Cape du Couedic
Es war gegen Mittag, und Amelia arbeitete im Gemüsegarten. Sie traute ihren Augen nicht, als sie Carlotta zielstrebig auf sich zukommen sah. Die Italienerin trug einen Korb in der Hand, der mit einem Tuch abgedeckt war, und der köstliche Duft von frisch gebackenem Brot umwehte sie.
»Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht«, flötete sie.
»Danke, gut«, antwortete Amelia vorsichtig. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Carlotta etwas von ihr wollte. Aber was?
»Das ist schön, sì. Es tut mir sehr Leid, dass ich Sie gestern geschlagen habe, aber es musste sein. Sie waren … wie sagt man? Wie von Sinnen, sì. Das verstehen Sie doch?«
»Ich war wohl ein wenig hysterisch. Es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass man eine von einem Hai zerfetzte Leiche sieht. Trotzdem hätten Sie mir nicht gleich ins Gesicht zu schlagen brauchen.« Ohne sie weiter zu beachten, fuhr Amelia mit dem Umgraben fort. Sie hatte sich die ganze Nacht unruhig hin- und hergeworfen und schreckliche Albträume gehabt. Jedes Mal, wenn sie die Augen zumachte, sah sie den verstümmelten Toten vor sich.
»Das muss grauenhaft gewesen sein«, sagte Carlotta und hätte am liebsten hinzugefügt: Das hast du davon, dass du mit Gabriel in die Höhle gegangen bist! »Ich habe Ihnen ein Kräuterbrot mitgebracht, wie man es in Italien isst, und ein wenig Aprikosenkonfitüre. Sie ist zwar nicht aus frischen Früchten, sondern aus eingemachten, aber sie schmeckt trotzdem gut.«
»Vielen Dank.« Amelia wusste nicht, was sie von Carlottas unerwarteter Freundlichkeit halten sollte. Sie traute ihr nicht, und sie glaubte nicht, dass sich das ändern würde.
Carlotta wollte gerade etwas sagen, als Evan aus dem Haus trat. Sein Blick fiel auf die beiden Frauen. »Guten Morgen!«, rief er.
»Guten Morgen, signore!« , antwortete Carlotta. Lächelnd und sich aufreizend in den runden Hüften wiegend ging sie auf ihn zu. Amelia schaute ihr nach. Kein Zweifel, Carlotta wusste, wie man die Männer betörte. Den sonst so griesgrämigen, schroffen Evan hatte sie bereits in ihren Bann gezogen, das war nicht zu übersehen.
»Ich habe Ihnen Brot und Konfitüre mitgebracht«, schnurrte Carlotta. »Genug für Sie und die bambini .«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, entgegnete Evan verlegen. »Wir essen es zu Mittag.« Er spähte zu Amelia hinüber, die die Szene aufmerksam beobachtete.
»Ich koche gern und gut. Ich werde bei Gelegenheit wieder etwas für Sie und die bambini vorbeibringen, vero?«
»Das ist wirklich nicht nötig«, erwiderte Evan, dem das Wasser im Mund zusammenlief, so köstlich duftete das frische Brot. Außer einem Fladenbrot brachte er nichts zustande. Amelia konnte inzwischen auch eins backen, doch es war steinhart. Evan vermisste das Brot, das seine Frau stets gebacken hatte.
»Aber das tue ich doch gern.« Carlotta lächelte Milo zu, der neben seinem Vater stand. Jessie und Molly standen in der Tür und schauten neugierig zu ihnen her. Der Anblick der Kleinen weckte Carlottas mütterliche Instinkte. Sie sehnte sich nach eigenen Kindern, aber nicht von Edgar. Sie wusste ganz genau, wer der Vater ihrer Kinder sein sollte. »Wenn ich etwas für Sie oder die bambini tun kann, signore , lassen Sie es mich wissen, vero?«
»Wir kommen schon zurecht«, entgegnete Evan stolz. »Aber danke für Ihr Angebot, Mrs Dixon.«
»Nennen Sie mich Carlotta.« Sie reichte ihm den Korb. »Lassen Sie es sich schmecken!«
»Vielen Dank, Carlotta.«
Evan ging zurück ins Haus, und Carlotta schlenderte noch einmal zu Amelia hinüber.
»Gabriel hat mir heute erzählt, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben. Das muss furchtbar sein, vero?«
»O ja«, gestand Amelia.
»Wenn ich mir vorstelle, ich könnte mich nicht mehr an meine Familie oder meine Kindheit erinnern … nicht auszudenken!«
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