Die Insel der roten Erde Roman
dieser Frau jemals begegnen werde.«
»O doch, das werden Sie.« Bevor Edna eine Erklärung verlangen konnte, kam Polly mit den Eiern herein. Betty nutzte die Gelegenheit, sich zu verabschieden. »Ich muss jetzt gehen, Missus. Danke für die Eier.« Sie legte das Geld auf den Tisch.
»Nichts zu danken, Betty.« Edna, die ihren eiligen Aufbruch nicht verstand, sah ihr verwundert nach. Betty hatte weder ihren Tee noch den Kuchen angerührt. »Was hat sie nur?«, fragte sie ihren Sohn.
Der zuckte mit den Schultern. »Vielleicht will sie nach den Kindern sehen.«
»Hast du Amelias Zimmer schon sauber gemacht?«, wandte Edna sich an Polly.
»Nein, Ma’am.«
»Und warum nicht?«
»Weil sie das selbst macht, Mrs Ashby.« Polly hatte geglaubt, Edna wüsste Bescheid. Nun fürchtete sie, einen Rüffel zu bekommen, weil sie diese Arbeit der jungen Dame überließ.
»Was soll das heißen – sie macht es selbst?«
»Sie macht ihr Bett selbst und putzt ihr Zimmer, seit sie da ist. Ich hab ihr gesagt, ich mach das, aber sie meint, sie ist es gewohnt.« Polly hatte das Gefühl, Mrs Ashbys Mündel wolle sie nicht in ihrem Zimmer haben, doch das sagte sie nicht.
Edna fiel aus allen Wolken. Wahrscheinlich hatte sie bisher deshalb nichts bemerkt, weil sie und Charlton morgens meistens nicht da waren.
»Gestern habe ich gesehen, wie sie einen Strumpf gestopft hat«, fuhr Polly fort, wie um zu beweisen, dass ihre Dienste nicht erwünscht waren. »Sie sei damit an einem Strauch hängen geblieben, hat sie gesagt.«
Edna kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Wo in aller Welt hat Amelia Strümpfe stopfen gelernt? Camilla hat wunderschöne Stickarbeiten gemacht, aber stopfen konnte sie gewiss nicht.«
»Miss Divine kann es jedenfalls ausgezeichnet, Mrs Ashby. Ich hätte es nicht besser gekonnt.«
Edna runzelte verwirrt die Stirn. Ihr Mündel steckte wirklich voller Überraschungen!
Sarah eilte die Auffahrt hinunter, blieb stehen und atmete ein paarmal tief durch. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass Bettys Art, sie anzusehen, sie in einen Abschnitt ihres Lebens zurückgestoßen hatte, den sie völlig aus dem Gedächtnis verdrängt hatte. Erinnerungen an die Jahre im Cascade-Frauengefängnis stürmten auf sie ein, und sie glaubte sich wieder in die übel riechende, überfüllte, stickige Zelle zurückversetzt. Kaum hatte der Wärter morgens aufgeschlossen, stürzten alle nach draußen. Nachdem sie zwölf Stunden lang den Gestank von Fäkalien, Urin und Schweiß geatmet hatten, gierten die Frauen förmlich nach frischer Luft. Zwölftausend weibliche Gefangene waren innerhalb von fünfzig Jahren in die Zuchthäuser in Van-Diemens-Land eingeliefert worden. Die meisten waren verurteilt worden, weil sie ihre Arbeitgeber in England bestohlen hatten. Sie verbüßten Haftstrafen zwischen sieben und vierzehn Jahren und mussten in der Wäscherei oder der Näherei arbeiten; die Aufträge kamen von der Gemeinde. Die Frauen hatten keine Rechte und keinen eigenen Willen mehr. Sarah würde sich eher umbringen, als dorthin zurückzukehren.
»Ich glaub das einfach nicht«, murmelte sie vor sich hin. »Alles lief nach Plan, und jetzt das! Wieso muss diese Betty daherkommen und alles kaputtmachen?« Sie dachte an den bevorstehenden Abend mit Lance, auf den sie sich so sehr gefreut hatte. »Ich werde nicht zulassen, dass Betty mir in die Quere kommt«, schwor sie sich. »Wenn sie versucht, meine Pläne zu durchkreuzen, muss ich sie mir irgendwie vom Hals schaffen, genau wie ich Amelia Divine losgeworden bin.«
Sarah war langsam die Auffahrt hinaufgegangen. Plötzlich bog Betty um die Hausecke. Sie blieb abrupt stehen, als sie sich der jungen Frau gegenübersah.
Sarah rang sich ein Lächeln ab, doch Betty erwiderte es nicht; Angst spiegelte sich auf ihren Zügen.
»Die Zuchthäuslerin, die bei dem Schiffsunglück zusammen mit mir gerettet wurde«, sagte Sarah, »hat das Gedächtnis verloren. Vielleicht ist es das, was Sie spüren, Betty.«
Betty blickte sie stumm an, mit leicht geneigtem Kopf. Nichts, was diese junge Frau sagte, ergab einen Sinn.
»Sie hat sich den Kopf angeschlagen, als sie mit der Winde das Kliff hinaufgezogen wurde«, fügte Sarah hinzu. »Ich hab’s selbst gesehen. Sie hatte eine Platzwunde am Hinterkopf.«
»Wie war ihr Name, Missus?«
Sarah tat so, als müsse sie erst überlegen. »Sarah, glaube ich … ja, Sarah Jones.«
Betty schnappte geräuschvoll nach Luft. Panik erfasste Sarah, doch sie zwang sich, Ruhe
Weitere Kostenlose Bücher