Die Insel der roten Erde Roman
Frau, die er kannte, war ganz anders: sanft und rücksichtsvoll, einfühlsam und aufgeschlossen. Sie arbeitete hart, und sie ging liebevoll und mütterlich mit Evans Kindern um. Das war die Frau, in die er sich verliebt hatte und die er sich als Mutter seiner Kinder wünschte.
Und dann kam dieser Brief und brachte ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht, denn die Frau, die Miss Divine beschrieb, war herzlos, grausam und selbstsüchtig. Es hatte ihn tief erschüttert.
Amelia wandte sich ihm zu und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Kann ich den Brief lesen?«
»Lieber nicht.«
»Ich muss ihn aber lesen, Gabriel! Ich muss wissen, wer ich bin oder weshalb Miss Divine mich für Sarah Jones hält.«
Er konnte sie zwar verstehen, wusste aber auch, wie tief der Brief sie verletzen würde. »Ich halte es für besser, wenn du ihn nicht liest.«
»Ich muss aber, Gabriel! Bitte!«, flehte sie.
Er blickte ihr in die Augen und erkannte, welche Qualen sie litt. »Also gut, Sarah.«
Sie zuckte innerlich zusammen. Sie hatte sich nie mit diesem Namen angefreundet und konnte einfach nicht glauben, dass sie Sarah Jones war. Vielleicht würde nicht einmal dieser Brief sie davon überzeugen können.
»Ich habe heute die erste Schicht. Gegen halb sechs gehe ich zu den Dixons und werde sie ablenken. Glaubst du, du kannst bis dann am Leuchtturm sein?«
Sie nickte. »Ja. Sobald ich das Essen für Evan und die Kinder auf den Tisch gestellt habe, werde ich einen Vorwand suchen.«
»Gut. Dann sehen wir uns gegen sechs.« Er zögerte. »Bist du dir wirklich sicher, Sarah?«
»Ich habe keine andere Wahl, Gabriel. Ich muss die Wahrheit wissen, und ich werde es erst glauben, wenn ich es schwarz auf weiß gesehen habe. Das verstehst du doch, nicht wahr?«
Er nickte knapp. »Ich möchte nur nicht, dass du verletzt wirst. Hätte ich dir doch nie von meinem Brief an Miss Divine erzählt!«
Gegen halb sieben stieg Amelia die Treppe im Leuchtturm hinauf. Ihre Beine waren schwer wie Blei, und ihr Herz lag ihr wie ein Stein in der Brust. Es kam ihr fast so vor, als wäre sie auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung. Sie hatte Evan erzählt, Carlotta wolle sie sehen; in spätestens einer Stunde sei sie zurück. Evan war so dankbar, dass es Milo wieder gut ging, dass er keine Fragen stellte.
Gabriel kam kurze Zeit später in den Leuchtturm. Er sperrte die Tür hinter sich zu und stieg die Treppe hinauf.
Amelia schaute aufs Wasser hinaus. Vor einem blassblauen Horizont versank die Sonne als lodernde, von orangeroten und goldenen Strahlen eingefasste Scheibe im Meer. Aber selbst der prachtvolle Sonnenuntergang vermochte Amelia nicht aufzuheitern. Als Gabriel die letzten Stufen nahm, drehte sie sich zu ihm um. Sie brachte nicht einmal ein Lächeln zustande. Schweigend schaute sie ihm zu, wie er das Leuchtfeuer entzündete und sich dann ihr gegenüber hinsetzte.
»Sarah, bevor ich dir den Brief gebe, sollst du eines wissen. Er ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Ich möchte, dass du mir versprichst, dass dieser Brief auch nichts daran ändern wird, wie du dich selbst siehst.«
»Das kann ich dir nicht versprechen, Gabriel. Erst muss ich wissen, was darin steht. Und dass er an deinen Gefühlen nichts geändert hat, ist nicht wahr. Ich kann es an deinen Augen sehen. Ich sehe etwas, das gestern noch nicht da war. Dieser Brief hat dich aufgewühlt … und mir wird es bestimmt genauso ergehen.«
Gabriel senkte den Blick für eine Sekunde. »Die Frau, die Miss Divine beschreibt, gibt es nicht mehr. Ich glaube, mit dem Verlust deines Gedächtnisses hast du einen Schlussstrich unter deine Vergangenheit gezogen. Was immer du getan hast, was immer dein Leben beeinflusst hat, welche Umstände dich dorthin geführt haben, wo du jetzt bist – das alles ist ausgelöscht. Und so sollte es auch bleiben. Es war gut, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Lies den Brief, dann verstehst du, was ich meine. Jetzt kannst du dein Leben noch einmal von vorn beginnen.«
»Du vergisst, dass ich noch eine Reststrafe von zwei Jahren verbüßen muss.«
»Das habe ich nicht vergessen. Aber Evan und die Kinder sind gute Menschen, und ich bin ja auch noch da. Mein Vertrag als Leuchtturmwärter läuft zwar in ein paar Monaten aus, aber ich kann ihn verlängern. Und solange du hier bist, möchte ich nirgendwo anders sein.«
Amelia wusste, ohne Gabriel wäre ihr Leben sehr viel trostloser. Er reichte ihr den Brief, und sie faltete ihn mit zitternden Fingern
Weitere Kostenlose Bücher