Die Insel der roten Erde Roman
feucht.
Sissie musterte sie besorgt. »Was ist denn passiert, Sarah?«
»Heute würde ich alles dafür geben, es nicht zu wissen.«
»Aber warum?«
»Gabriel hat der jungen Frau geschrieben, die mit mir zusammen gerettet wurde. Er wollte wissen, ob sie mich möglicherweise verwechselt hat und ich nicht die Zuchthäuslerin bin, die hier bei euch ihre Reststrafe verbüßen muss. Gestern kam ihre Antwort. Sie habe sich nicht geirrt, schrieb sie.« Amelia brachte es nicht über sich, Sissie zu gestehen, dass ihretwegen ein Mädchen gestorben war. Sooft sie daran dachte, wurde ihr das Herz schwer vor Kummer, und sie schämte sich entsetzlich.
»Das beweist doch gar nichts«, behauptete Sissie. »Es waren sehr viele Menschen an Bord. Vielleicht hast du jemandem ähnlich gesehen, und in dem ganzen Durcheinander …«
»An diese Hoffnung kann ich mich nicht mehr klammern, Sissie. Offenbar habe ich eine düstere Vergangenheit. Damit muss ich leben. Was geschehen ist, kann ich nicht mehr ändern, aber es liegt an mir, wie meine Zukunft aussieht, und ich werde alles daransetzen, meine Sünden wieder gutzumachen. Eines jedenfalls ist sicher: Ich habe es nicht verdient, glücklich zu sein.« Sie dachte an Gabriel. Er hatte ihr nie gehört, aber jetzt war jede Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mit ihm zerstört. Er hatte etwas Besseres verdient. Sie hingegen würde ihre ganze Kraft den Finnlay-Kindern widmen; hier wurde sie gebraucht, hier konnte sie Gutes tun.
Sissie mochte es nicht, wenn sie so redete, aber sie wusste nicht, wie sie ihr Mut machen konnte.
»Kann ich dich etwas fragen, Sissie?«, sagte Amelia unvermittelt.
»Sicher. Was denn?«
»Wo ist eigentlich deine Mutter beerdigt?«
Sissie blickte sie verblüfft an. Wie kam sie denn jetzt darauf?
»Dein Vater hat so eine Bemerkung gemacht … und mir kam es merkwürdig vor, dass mir ihr Grab nie aufgefallen ist«, erklärte Amelia.
»Papa hat sie oben auf dem Hügel hinter dem Haus beerdigt.«
»Wo die Schafe weiden?«, fragte Amelia ungläubig.
»Ja. Er ist immer schon gern dort oben gewesen. Er und Mutter sind oft dort spazieren gegangen, deshalb hat der Ort eine besondere Bedeutung für ihn.« Außerdem wollte ihr Vater vermutlich nicht, dass sie oder ihre Geschwister sich jeden Tag dem Grab ihrer Mutter gegenübersahen.
Jetzt war Amelia klar, weshalb ihr das Grab nie aufgefallen war. Sie war noch nie den Hügel hinaufgestiegen, aber sie wusste von Evan, dass er Monate gebraucht hatte, um den Wald zu roden und die gefällten Baumstämme mit Clydes Hilfe abzutransportieren. Der Regen hatte das Land inzwischen in eine saftige Weide für die Schafe verwandelt.
Amelia überlegte, ob sie Sissie nach Joseph fragen durfte. Während sie noch nach einer Möglichkeit suchte, das Thema feinfühlig zur Sprache zu bringen, sagte das Mädchen plötzlich: »Meine Mutter ist bei der Geburt meines kleinen Bruders gestorben, vor ungefähr einem Jahr.«
Für ein Mädchen in Sissies Alter musste nicht nur der Verlust der Mutter, sondern auch die Geburt als solche ein schwerer Schock gewesen sein. Amelia wurde in ihrer Vermutung bestärkt, als Sissie gequält ausrief:
»Ich will nie heiraten und Kinder haben!«
Die unterschiedlichsten Emotionen spiegelten sich auf ihren Zügen. Was musste in ihr vorgegangen sein, als sie ihre Mutter im Kindbett liegen sah, ihre Schmerzensschreie hörte und beobachtete, wie sie sich quälte! Amelia begriff nicht, weshalb Evan nach dieser Tragödie nicht in die Nähe einer Stadt gezogen war, wo es einen Arzt gab.
»Eine Geburt ist etwas ganz Natürliches«, sagte sie behutsam. »Und meistens verläuft sie reibungslos, aber es besteht immer die Gefahr, dass Schwierigkeiten auftreten. Ich glaube, ein Kind zur Welt zu bringen, ist für eine Frau die schönste Erfahrung überhaupt. Für mich wäre das ganz sicher so.«
»Papa sagt, Mutter war so erschöpft, dass sie Joseph nicht herauspressen konnte. Sie hatte von der harten Arbeit einfach keine Kraft mehr. Außerdem kam Joseph mit den Füßen zuerst. Dad hat noch versucht, ihn umzudrehen und dann herauszuziehen, aber Mutter hat fürchterlich geschrien, und dann ist sie ohnmächtig geworden.« Sissie kniff die Augen fest zusammen und hielt sich die Ohren zu, als könnte sie die Schreie ihrer in Todesqualen sich windenden Mutter immer noch hören.
Amelia legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. »Es tut mir Leid, dass ich davon angefangen habe«, sagte sie leise.
»Als Mutter wieder zu
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