Die Insel Der Tausend Quellen
Máanu verraten. Und sonst – wie gesagt, ich komme nicht in Frage, und …«
Nora antwortete nicht, sondern starrte angestrengt auf den Weg, den ihr Pferd entlangschritt. Dabei lagen längst keine umgestürzten Bäume mehr quer darüber. Elias hatte die Stämme wegschaffen lassen und die wertvolleren Hölzer in Kingston verkauft. Die Landschaft wirkte auch nicht mehr so tot wie kurz nach dem Sturm. Aus den Stümpfen der abgeknickten Bäume und in den Lücken, die entwurzelte Pflanzen hinterlassen hatten, schossen jetzt schon wieder neue grüne Triebe.
Doug schüttelte heftig den Kopf. »Mein Vater war das nicht!«, sagte er dann im Brustton der Überzeugung. »Du darfst ihm das nicht unterstellen, das ist … das ist ungeheuerlich. Schau, Nora, wir haben durchaus unsere Differenzen, er kann grausam sein und hart. Aber Vergewaltigung von kleinen Mädchen … Er ist doch ein Mensch …«
»Und wer tut es dann?«, gab Nora zurück und sah ihm jetzt offen in die Augen. »Glaub mir, wenn ein Drache im Keller hauste, wüsste ich es. Wer auch immer das tut, ist ein Ungeheuer, aber er sieht aus wie du und ich …«
»Aber mein Vater …« Doug sprach den Satz nicht zu Ende.
Nora hielt ihr Pferd an und stieg jetzt doch ab, als sie den Strand erreichten. Es regnete gerade nicht, sie konnten wenigstens ein wenig am Meer entlanggehen. Nora verspürte den dringlichen Wunsch, Doug nahe zu sein.
»Schau, Doug, ich will es doch auch nicht glauben«, sagte sie dann, als er sofort, wie selbstverständlich, den Arm um sie legte. »Aber es muss ein Weißer sein, und wenn es wirklich im Haus passiert …«
»Dann passiert es eben nicht im Haus!«, behauptete Doug im Brustton der Überzeugung. »Du fantasierst dir da etwas zusammen, weiß der Himmel, was Máanu gemeint hat. Vielleicht macht sie sich einfach verrückt, weil Mansah nun nicht mehr jeden Moment mit ihrer Mutter zusammen ist. Das raubt ihr ja wirklich den absoluten Schutz. Aber sie kann nicht gemeint haben, dass es im Haus gefährlich ist. Sie kann einfach nicht.«
»Bleibt die Frage, wo Máanu steckt«, meinte Nora. »Und was ich tue, wenn sie morgen nicht auftaucht. Soll ich sie melden?«
Doug zuckte die Schultern. »Das wirst du müssen. Im Übrigen werden auch andere Fragen stellen. Die Aufseher haben ja auch ein Auge auf die Küchensklaven. Wenn das Mädchen wirklich fort ist …«
»Ich könnte sagen, ich hätte ihr ein paar Tage freigegeben«, überlegte Nora.
Doug sah sie ernst an. »Du willst sie also decken? Behaupten, du hättest ihr einen Passierschein gegeben oder so was?«
Nora lächelte. »Das ist eine gute Idee«, sagte sie dann. »Zu einer der Baarm Maddas auf … Warte mal … Hollister ist zu nah … aber Keensley! Eine Kräuterfrau auf der Keensley-Plantage. Sie sollte für mich irgendwelche seltenen Pflanzen holen, die nirgendwo sonst wachsen.«
Doug zog Nora in die Arme, und sie schmiegte sich an ihn, glücklich, dass er sie nicht verdammte.
»Aber wenn sie Máanu doch erwischen?«, gab er dann zu bedenken. »In dem Fall würde es rauskommen. Und wenn publik wird, dass du einer Sklavin zur Flucht verholfen hast … Das gibt einen Skandal, der die ganze Insel erschüttert!«
Nora machte sich los, sah Doug an und überlegte, ob sie ihm von Simon erzählen sollte. Aber dann entschloss sie sich dagegen, sie hatte an diesem Tag schon zu viele Geheimnisse enthüllt.
»Skandale«, sagte sie schließlich, »waren mir immer ziemlich egal.«
KAPITEL 6
M áanu wusste, dass sie die Maroons nie finden würde.
Selbst dann nicht, wenn sie sich in den Blue Mountains ausgekannt hätte oder wenn sie eine Ahnung davon gehabt hätte, wo der Stony River verlief. Allerdings war sie sich sicher, dass die freien Schwarzen sie aufgreifen würden. Die Windward Maroons galten als ausgezeichnet organisiert, hinter jedem Baum konnte sich einer ihrer Späher verstecken. Fragte sich nur, ob der sie dann auch zu Granny Nanny brachte oder womöglich auslieferte. Die Pflanzer zahlten sicher eine beträchtliche Belohnung, wenn die Maroons ihnen einen Flüchtling zurückbrachten. Außerdem konnte sie theoretisch auch in Cudjoes Machtgebiet gelangen oder in den Bezirk von Accompong.
Máanu hoffte jedoch mit aller Kraft, dass die Geister ihr den Weg zum Dorf und dann auch zum Herzen der Ashanti Queen Nanny weisen würden. An irgendwelche Gefahren, die durch die Maroons drohen mochten, wollte sie gar nicht denken. Sie war entschlossen, sich sicher zu fühlen, nachdem sie
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