Die Insel Der Tausend Quellen
sicher nicht kontrollieren.
Allerdings gab sie sich auch nicht der Illusion hin, auf dem Weg zu Tolo völlig unbeobachtet zu bleiben. Das Verteidigungssystem von Nanny Town funktionierte tadellos, und auch wenn Nanny die »Hexe« nicht mochte, stand sie doch zweifellos unter dem Schutz der Windward Maroons. Der Fluss mochte verlassen wirken, aber Nora war sich sicher, dass wachsame Augen sie beobachteten, während sie seinem Verlauf folgte. Schamerfüllt überlegte sie, ob die Männer auch um die Bedeutung des Huhns in ihrem Sack wussten. Verborgen blieb ihnen die zappelnde, protestierende Henne sicher nicht.
Tatsächlich war es nicht wirklich weit zu Tolos Hütte. Man wanderte ungefähr eine Stunde, aber das lag eher daran, dass kein befestigter Pfad am Fluss entlangführte; nur gelegentlich, wenn das Ufer sandig wurde, erkannte Nora die Abdrücke schmaler Frauenfüße. Sie suchte sich den Weg durch Farne und Flechtengewächse, in denen sich mannigfaltige Insekten verbargen. Trotz ihrer traurigen Mission weidete sich Nora am Anblick der bunten Schmetterlinge, litt allerdings unter den Stechinsekten, die sich an ihren Waden gütlich taten. Nora dachte daran, dass es auf Jamaika angeblich auch Krokodile gab – allerdings wohl eher im Westen am Black River als hier im Osten der Insel. Trotzdem spähte sie in einer Mischung aus Besorgnis und Abenteuerlust in die flachen Flussbuchten. Die Ufer waren von Akazien und Farnen beschattet, und im grünlichen Halbdunkel hielt Nora nur zu oft einen Ast oder einen Schatten für eine der großen Echsen. An sich hätte sie die Tiere gern einmal gesehen, wenn auch nicht unbedingt an diesem Tag, da sie unbewaffnet und allein war. Wehmütig dachte sie zurück an die vagen Pläne, die sie mit Doug geschmiedet hatte. Eines Tages wollte er ihr die Insel zeigen. Mit Doug hätte sie sich nicht vor den Echsen gefürchtet … Aber Doug hatte sie im Stich gelassen. Nora musste sich zwingen, ihn ebenfalls zu vergessen.
Trotz des schattigen Ufers war Nora in Schweiß gebadet, als sie die Flussbiegung endlich erreichte und dort tatsächlich auf den einmündenden Bach stieß. Sie wusch sich darin Gesicht und Hände und wagte jetzt auch, den Schleier sinken zu lassen. Ein möglicher Beobachter der Maroons musste wissen, dass sie zu Tolo unterwegs war, und würde sich aus Frauenangelegenheiten zumindest vorerst heraushalten. Natürlich mochte er Akwasi später von den Eskapaden seiner Sklavin erzählen, aber das war Nora egal. Sollte Akwasi sie strafen. Wenn sie zurückkam, würde zumindest ihr dringendstes Problem erledigt sein.
Tolos Hütte lag gut getarnt am Rande eines Weihers, der von einer sprudelnden Quelle gespeist wurde. Ein idyllisches Plätzchen – die Frauen in Nanny Town sagten, dass sich in solchen Gegenden auch sehr gern gute Geister aufhielten. Wahrscheinlich hatte Tolo den Ort deshalb gewählt. Die alte Frau saß vor ihrer Hütte am Feuer und schaute Nora mit aufmerksamen, hellen Augen entgegen. Nora starrte verblüfft zurück, sie hatte vorher nie eine Schwarze mit so strahlendem Blick gesehen.
»Tolo?«, fragte sie befangen.
Die alte Frau verzog das Gesicht, Nora wusste nicht, ob ihre Grimasse ein Lächeln sein sollte. Tolo war fülliger als Nanny und sicher erheblich älter, aber nicht viel größer. Sie war höchstwahrscheinlich keine Ashanti, sondern musste aus einem anderen Teil Afrikas stammen als die stolzen Menschen von der Elfenbeinküste.
»Wer sonst?«, antwortete sie schließlich. »Und du … Ich hatte gehört, dass Nanny eine weiße Frau in der Stadt hat. Aber ich wollte es nicht glauben.«
»Ich bin nicht aus eigenem Antrieb dort«, sagte Nora scharf.
Ihr wurde schon wieder schlecht. Tolo verbrannte irgendwelche Kräuter in ihrem Feuer, wahrscheinlich, um Insekten abzuschrecken. Außerdem kochte eine stinkende Masse in einem Topf.
Tolo grinste nun wirklich. »Ich auch nicht«, bemerkte sie. »Keiner von uns ist freiwillig in diesem Land, aber dich hat man zumindest nicht in Ketten nackt auf ein Schiff gezerrt. Mit solchen Klagen, Kind, machst du dir keine Freunde.«
Nora registrierte, dass Tolo fließend Englisch sprach.
»Aber Sie sind doch schon immer hier«, meinte sie dann. Sie wählte unwillkürlich die respektvolle Anrede. Tolo war imponierend, ihre Ausstrahlung mindestens ebenso königlich wie die Nannys. »Sie sind hier geboren, nicht?«
Tolo nickte. »Aber meine Mutter wurde geraubt«, erklärte sie. »Und ich … Sagen wir, ich hatte eine
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