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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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sicherheitshalber, aber Peter saß noch immer da, so strahlend wie zuvor.
    Lizzy und Rhonda sprangen eilig auf die Bühne und hielten gespannt den Atem an: Vielleicht würde Peter ihnen ja heute von dem Stück erzählen.
    Er hatte sich wochenlang verkrochen, sich in seinem Zimmer eingeschlossen oder ganze Nachmittage in der Bibliothek verbracht, und an warmen Tagen war er nach der Schule zur Bühne gegangen und hatte dort in sein Notizheft geschrieben. Peter durfte man nicht stören, wenn er an einem Stück arbeitete. Und er erzählte erst davon, wenn er mit dem Manuskript und seinen Regieanweisungen vollkommen fertig war.
    Peter stand auf und lächelte spitzbübisch. Er reichte Rhonda die Hand.
    «Komm mit, Wendy», sagte er.
    Und Rhonda ergriff seine Hand, ohne zu zögern und ohne sich zu fragen, wer Wendy wohl sein mochte oder wo Peter mit ihr hinwollte. Hand in Hand sprangen sie von der Bühne und rannten lachend und krächzend auf der Lichtung herum wie verrückt gewordene Vögel. Peter schrie: «Ist das Fliegen nicht wundervoll?» Lizzy saß am Bühnenrand, klatschte und lachte mit, bis sie zurückkamen und zuLizzys Füßen zusammenbrachen. Sie lagen beide auf dem Rücken, und Rhondas Kopf ruhte auf Peters Brust, die sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Lizzy legte sich zu ihnen, mit dem Kopf auf Rhondas Bauch und den Beinen über denen von Peter, sodass sie zu dritt ein ziemlich schiefes Dreieck bildeten.
    «Habt ihr es inzwischen erraten?», fragte Peter.
    Tausend Möglichkeiten gingen Rhonda durch den Kopf. Ein Stück über Vögel? Griechische Götter? Oder vielleicht Elfen?
    «Peter Pan!»,
sagte Peter endlich. «Wir führen
Peter Pan
auf! Es wird das beste Stück, das wir je hatten. Ich spiele Peter. Du, Ronnie, bist Wendy. Und Lizzy, du spielst den berüchtigten Captain Hook!»
     
    Natürlich hatten sie auch früher schon Theaterstücke aufgeführt – Stücke, die Peter geschrieben hatte und die sie später, bei den Proben, spontan ergänzt hatten. Kurze Dramen mit vorhersehbarem Verlauf, über Ritter, die Drachen erschlugen, Cowboys, die Indianer töteten, und Polizisten, die Verbrecher erschossen. Im Vorjahr hatte Peter sich sogar von den Mädchen dazu überreden lassen, ein Stück über eine fahrende Zigeunersippe zu schreiben. Peter hatte den Zigeunerkönig gespielt, Rhonda die Königin und Lizzy ihre verräterische Schwester, die ebenfalls in den König verliebt war. Lizzy vergiftete Rhonda, die dann drei Minuten lang äußerst spektakulär auf der Bühne starb. Peter, der Zigeunerkönig, ließ Lizzy hängen und erstach sich selbst mit seinem Dolch, die Bosheit der Weiber und das Zigeunerleben verfluchend. Das Strickmuster fast allerihrer Stücke verlangte, dass am Ende alle Protagonisten tot waren, sogar der Held. Nur in
Peter Pan
waren am Schluss alle noch am Leben.
    «Das heißt alle außer Captain Hook», erklärte Peter. «Der wird vom Krokodil gefressen.»
    Als Autor, Regisseur und Star seiner Stücke gab Peter die Regeln vor (außerdem war er nun einmal der älteste Junge in der Nachbarschaft), und als sie älter wurden, wurden die Stücke komplizierter und die Anweisungen ebenso. Doch seit jeher hatte die strenge Regel gegolten, dass man nicht mit anderen über das Stück reden durfte. Bis zur Premiere mussten alle Außenstehenden vollkommen ahnungslos bleiben, durften weder etwas von der Handlung erfahren noch Teile davon sehen, und wer dann zur Aufführung wollte, musste Eintritt bezahlen. Das Proben eines Stückes sei wie ein Training zum Ninja-Kämpfer, erklärte Peter: Man befreie seine Gedanken von allem anderen und entwickle seine Kunst in der Stille. Man ringe um Vollkommenheit.
    Es gab Kinder, die wünschten sich ein Baumhaus als geheimen Zufluchtsort, doch diese drei wollten eine eigene Bühne haben, und das schafften sie auch. Vor drei Jahren hatten sie auf einer Lichtung zwischen Rhondas Haus und dem von Peter und Lizzy eine Bühne gebaut, unmittelbar neben Clems altem, verrostetem Chevrolet Impala Cabrio, der seit Rhondas Geburt dort stand. Clem und Daniel hatten beim Bau geholfen, sie hatten die Bretter zurechtgesägt und transportiert, und die Kinder hatten sie zusammengenagelt.
    Die Bühne wirkte wie ein sonderbares Rettungsfloß, das auf der von Weymouths-Kiefern umstandenen Lichtunggestrandet war. Sie bestand aus den Brettern eines alten Silos, das ein paar Meilen entfernt abgerissen worden war. Den Hintergrund der Bühne bildete eine dünne Fachwerkwand, über die

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