Die Insel der verlorenen Kinder
Zauberkunststück sehen wolle. Sie hatte die Achseln gezuckt. Er hatte sich eine Münze aus dem Ohr gezogen und sie ihr gegeben. Als sie die Hand um die glänzende Vierteldollarmünze schloss, hatte er sie am Handgelenk gepackt und in sein Auto gezerrt.
«Die Luft ist rein!»
Rhonda fuhr zusammen. Warren steckte den Kopf durch die Tür und lächelte herzlich und ein bisschen entschuldigend, als hätte er irgendwie Schuld an Trudys Benehmen. «Katy ist noch immer da, aber ihre Mom und ihre Tante sind weg. Komm und nimm dir ein Sandwich.»
Am Tisch der Helfer schob Katy Rhonda ein Thunfischsandwich zu. Die lehnte aber ab, obwohl sie vor Hunger fast umkam.
«Tante Trudy ist vollkommen außer sich», erklärte Katy Rhonda. «Sie sucht einfach nur jemanden, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben kann, verstehst du? Wenn sie wieder klar im Kopf ist, wird sie schon einsehen, dass das mit Ernie nicht deine Schuld war. Ich meine, das liegt doch auf der Hand. Was hättest du denn tun sollen? Der Kerl hat sie einfach geschnappt, und weg waren sie.»
Rhonda nickte.
Weg. Hand in Pfote gingen sie in den Sonnenuntergang davon.
«Also, Folgendes konnte ich herausfinden», fuhr Katy fort. «Der Hase hat Ernie mindestens drei Wochen lang besucht. Der letzte Besuch, von dem wir mit Sicherheit wissen, war letzten Donnerstag: Ernie hat ihrer Mom erzählt, sie hätte den Bus verpasst und der Hase hätte sie heimgebracht.Sie hat Bilder von ihm gemalt, wie er sich in der Nähe des Schulhofs im Gebüsch versteckt und wie er sich mit ihr durch ihr Schlafzimmerfenster unterhält. Aber die meisten Bilder sahen aus wie dieses hier.» Aus einem Ringbuch, auf dessen Einband in Glitzerbuchstaben GIRLS’ POWER stand, ließ Katy verstohlen ein Blatt gleiten – es war ein mit Buntstift gemaltes Bild, das in unbeholfenen Buchstaben als
HASENINSEL
beschriftet war.
«Solltest du das nicht der Polizei geben?», flüsterte Warren.
Katy zuckte die Schultern. «Ernie hat noch so viele andere Bilder gemalt, die alle die gleiche Szene zeigen. Und Crowley hat sie alle bekommen. Da dachte ich mir, eines sollten wir aufheben, nur für den Fall, dass wir die anderen nie zurückbekommen, weißt du? Das sind nämlich jetzt Beweisstücke. Es kam mir nicht richtig vor, wirklich alle wegzugeben. Ich hatte das Gefühl, das würde, ich weiß nicht, Unglück bringen oder so. Als wäre ich dann bereit, sie ganz aufzugeben.»
Wie nett das Bild war, dachte Rhonda, es war da so einladend, als käme es aus dem Katalog eines Reiseveranstalters für tropische Insel-Resorts. Sie betrachtete die Palmen, die bunten Hasen, die auf hübschen, ordentlichen Steinreihen in der Sonne ruhten, und die weißen Wölkchen, die wie Hoppelhasen aussahen. Die Insel war auf allen Seiten von dunklem Wasser umgeben, in dem es von Haien wimmelte. Ein kleiner schwarzer Zaun führte rund um die Insel, und wer hineinwollte, musste durch ein Gartentor, das zu beiden Seiten von riesigen Hasen bewacht war. Neben dem Tor lag ein kleines braunes Unterseeboot am Strand.
«Das ist offensichtlich der Volkswagen», sagte Warren und deutete auf das Unterseeboot. «Das U-Boot hat genau die gleiche Form wie der Käfer. Ernie hat einfach nur noch ein Periskop und einen Propeller dazugemalt.»
«Aber dann müsste der Hase Laura Lees Wagen doch mehrmals benutzt haben», meinte Rhonda. «Ich meine, ich kann mir gut vorstellen, dass er ihn einmal nimmt und sie nichts davon merkt. Aber gleich mehrmals hintereinander? Das kommt mir doch ziemlich riskant vor.»
«Nicht wenn es jemand war, den Laura Lee kannte», entgegnete Katy. «Jemand, dem sie vertraute. Jemand, der einen eigenen Schlüssel hatte.»
Rhonda schüttelte den Kopf und sah wieder auf das Bild.
Dort waren Ernie und Peter Hase in der Mitte der Insel zu sehen. Ernie hielt den Hasen lächelnd bei der Pfote.
Haseninsel.
Rhonda stellte sich vor, Ernie wäre jetzt da und freute sich über den Sonnenschein. Vielleicht war die Haseninsel ja der Ort, wohin alle Kinder gingen, die vermisst wurden. Vielleicht waren ja auch Lizzy und Daniel dort, überlegte Rhonda, obwohl sie natürlich wusste, dass das Unsinn war. Sie strich mit der Hand über das Bild des Mädchens. Vielleicht war die Haseninsel von lauter Menschen bevölkert, die irgendwann verschwunden waren. Sie schüttelte den Kopf.
Jetzt bleib mal vernünftig,
ermahnte sie sich.
Schau dir lieber das Beweisstück genau an.
«Wenn das Unterseeboot tatsächlich Laura Lees Wagen ist, dann ist
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