Die Insel der verlorenen Kinder
Mal laut ausgesprochen hätte, wie schlimm das für Rhonda gewesen war, wie schlimm für sie alle. Wie falsch und schrecklich alles war, eine Katastrophe. Stattdessen hörte sie diese Worte jetzt von Warren, der praktisch ein Fremder war. Trotzdem zeigte er mit den beiden Sätzen tausendmal mehr Mitgefühl, als Peter jemals zu erkennen gegeben hatte. Es kam ihr ungerecht vor. Aber so war das Leben nun mal, oder? Sie sah auf das Foto von Ernie auf dem Vermisstenflugblatt und zupfte wieder an dem Pappbecher herum.
«Es war wirklich schlimm. Und das Schlimmste daran war, dass ich niemals erfahren habe, was mit Lizzy passiert ist. Wir haben sie nie wieder gesehen. Sie und Daniel haben sich einfach davongeschlichen und sich irgendwo anders ein Leben aufgebaut, und keiner von uns hat je begriffen, warum.»
Warren nickte. «Zwei vermisste Mädchen», sagte er.
Rhonda atmete zischend durch die Zähne aus. «Die beiden Fälle haben nichts miteinander zu tun, Warren.»
Warren sammelte die Fetzen von Rhondas Pappbecher ein und betrachtete sie so aufmerksam, als wären sie Beweisstücke. «Ich sage nur, dass meiner Meinung nach nichts ohne Grund geschieht, nur kennen wir den Grund nicht immer.» Er kaute auf seiner Unterlippe herum undfuhr dann fort: «Ich glaube nicht, dass es einfach nur Zufall oder Pech war, dass ausgerechnet du hier auf dem Mini-Mart-Parkplatz standest, als Ernie entführt wurde. Du solltest es sehen und in die Sache verwickelt werden.»
«Das ist doch Quatsch», gab Rhonda zurück und schob ruckartig ihren Stuhl nach hinten, weg von ihm. «Das Leben besteht
wirklich
nur aus Chaos und Pech. So ist schließlich das Universum entstanden. Nur deswegen sind wir alle hier.»
«Du solltest nicht hier sein», fauchte Trudy Rhonda an.
Es war Mittag, und Katy und ihre Mom kamen mit einer Kühlbox voller Sandwiches für Pats Mannschaft, Trudy Florucci im Schlepptau.
«Tante Trudy, sie will doch nur helfen», wandte Katy ein.
«Sorg dafür, dass die hier verschwindet», sagte Trudy zu Pat, die gerade eingreifen wollte.
«Trudy, Rhonda ist …», begann Pat.
«Ich habe die Sandwiches gemacht. Wenigstens das konnte ich seit Ernies Entführung beisteuern. Das hat mich jeden Funken Energie gekostet, den ich aufbringen konnte. Und ich lasse nicht zu, dass diese blöde Kuh hier auf ihrem fetten Arsch hockt und
meine
Sandwiches frisst und sich für so eine Art Heldin hält, wo sie doch selbst die Schuld daran trägt, dass Ernie verschwunden ist!»
Pat nickte Rhonda zu, die mit zitternden Knien aufstand, legte dann den Arm um sie und führte sie hinten in den Laden. «Komm, versteck dich in meinem Büro, bis sie weg ist», flüsterte Pat. «Wir brauchen dich hier.»
Rhonda folgte ihrer Aufforderung und setzte sich hinter Pats mächtigen Schreibtisch. In der Ecke lief der Nachrichtensender CNN auf einem kleinen Fernseher. Neben Rhonda hing ein Klemmbrett mit dem Arbeitszeitplan für die Angestellten. Auf dem Schreibtisch häuften sich Zeitschriften, Zeitungen, Computerausdrucke und Flugblätter mit dem Aufdruck VERMISST und dem Foto der lächelnden kleinen Ernie. Mitten in dem Chaos stand ein kleiner Quader aus Granit, der an einen Grabstein erinnerte und in den die Worte PAT HERBERT, TANKSTELLENBESITZERIN UND GESCHÄFTSFÜHRERIN eingraviert waren. Daneben stand ein gerahmtes Foto von drei kleinen Mädchen, von denen eines eindeutig Pat im Alter von zehn oder elf Jahren war. Es kam einem komisch vor, dass Pat auch einmal jung gewesen sein sollte, aber wenn man dann feststellte, dass sich, vom Alter einmal abgesehen, seitdem nicht viel verändert hatte, fühlte man sich auch wieder beruhigt. Pat schaute ernsthaft drein. Sie war das älteste der drei Mädchen und hatte offensichtlich die Verantwortung für die beiden anderen übernommen. Das mittlere Mädchen lächelte selbstgefällig mit vorstehenden Zähnen. Und das kleinste Kind, das Mädchen am Ende der Reihe, trug Bänder und Schleifchen im Haar und guckte verschmitzt, als wüsste es schon, dass es sich sofort die Schleifen aus dem Haar reißen würde, wenn der Fotograf ihm den Rücken zuwandte.
Vor dem Foto in seinem schweren Metallrahmen lag die Ausgabe von
People
mit Ella Starkee, dem Farmer und seinem Border Collie auf dem Cover. Rhonda schlug die Zeitschrift auf und überflog den Artikel, den sie bereits mehrmals gelesen hatte.
Ellas Entführer hatte das Mädchen auf dem Heimweg von der Schule angesprochen. Er hatte gefragt, ob sie ein
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