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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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«Nur ein Bild.»
    Sie hätte ihn gerne daran erinnert, wie sehr er ihre Zeichnungen früher gemocht hatte. Wie er ihre künstlerischen Bemühungen ermutigt hatte. Als Kind stand er ihr oft Modell, meist in einem seiner Kostüme. Wie gut sie seinen Körper damals kannte, jeden Umriss und jede winzige Unvollkommenheit. Sie füllte ganze Skizzenbücher mit Zeichnungen von ihm. Seitenlang widmete sie sich zum Beispiel seiner Nase, deren Winkel sie genau zu erfassen versuchte. Oder seinem Mund – den schmalen Lippen mit dem Spalt zwischen den Vorderzähnen, durch den er pfeifen konnte.
    Wenn sie nachmittags am Loon’s Cove schwimmen gingen, verband Rhonda die Sommersprossen auf seinen Schultern und seinem Rücken, die sie jetzt nicht mehr anfassen durfte, mit den Fingerspitzen und beschrieb ihm die Bilder, die sie darin erkannte, wie Sternbilder. Manchmal kam es ihr so vor, als läge sein ganzes Leben in den Bildern auf seinem Rücken vor ihr ausgebreitet und sie müsse es nur lesen und die Bedeutung jedes Bildes erkennen wie ein frühgeschichtlicher Astronom oder eine Zigeunerin, die im Kaffeesatz liest.
    Als er sich nun auf die Bettkante setzte, fragte sie sich, wie das alles sich so hatte ändern können, und staunte, wie fremd sein Körper ihr jetzt vorkam. Der Bauch hing über die Jeans, und die Schultern waren gebeugt. Seit wann hielt er sich eigentlich so krumm? Früher hatte er immer eine so herausfordernd gerade Haltung bewahrt. Er drückte seine Zigarette in ihrem Glasaschenbecher aus, als koste ihn das Kraft.
    Er lehnte sich nach hinten und legte sich dann mit dem Rücken auf ihr Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Das verwaschene schwarze T-Shirt steckte in Jeans, die an den Knien Löcher hatten. Wie seit jeher trug er knöchellange Basketballschuhe aus schwarzem Leinen. Es war, als hätte er von der Kindheit bis heute immer dieselben Kleider getragen, und der Stoff wäre erst jetzt, nach Jahren des Wachstums, allmählich zerschlissen.
    In Momenten wie diesem, da er auf ihrem Bett lag, stellte sie sich manchmal vor, er flirte mit ihr – er necke sie und erinnere sie an die Macht, die er noch immer über ihre Gefühle besaß. Manchmal flirtete sie befangen zurück – sieberührte dann seinen Arm, lachte ein bisschen zu laut über einen Scherz oder strich ihm das Haar aus der Stirn und legte den Finger auf die Narbe. Aber irgendwie fühlte sie sich dabei immer jämmerlich. Zweite Wahl eben.
    «Ich freu mich, dass du wieder zeichnest», sagte er, die Stimme kaum lauter als ein Flüstern. «Es ist nur einfach ein bisschen komisch, weißt du? So ein eigenartiges Thema. Hättest du nicht eine Obstschale malen können oder so?»
    «Findest du, dass es Lizzy wirklich ähnlich sieht? Habe ich sie gut getroffen?», fragte Rhonda und betrachtete das Bild an der Wand.
    «Genau richtig. Ich wusste sofort, wer es ist.» Peter blickte beim Sprechen zu ihr auf. Sein Gesicht war ganz sanft und zärtlich. Er schien sich auf ihrem Bett vollkommen wohl zu fühlen. Einen Moment lang gestattete Rhonda sich die Phantasie, das hier wäre ihr gemeinsames Bett. Und Peter legte sich gerade nach einem langen Tag in das Bett, in dem sie Abend für Abend zusammen einschliefen.
    «Fragst du dich eigentlich nie, was mit ihr ist?», erkundigte sich Rhonda und gestattete sich noch einen Blick in Peters Gesicht. «Hoffst du eigentlich nicht, dass sie vielleicht eines Tages zurückkommt und alles erklärt?»
    «Was gibt es da zu erklären?», entgegnete Peter, der sich jetzt anders hinlegte und ein bisschen aufgebracht klang.
    «Ich weiß nicht   … Wohl, warum sie verschwunden ist. Und was sie all die Jahre gemacht hat. Vielleicht ist sie verheiratet und hat Kinder. Du könntest Onkel sein! Fragst du dich nie, was sie jeden Morgen macht, was sie sieht, wenn sie aufsteht?»
    «Doch, natürlich frage ich mich das. Aber sie hat ihre eigene Entscheidung getroffen, die wir nicht kennen.»
    Ihre eigene Entscheidung. Rhonda dachte daran, wie unterschiedlich sie sich alle zu jener Zeit entschieden hatten – wie bewusst hatten sie damals eigentlich ihre Wahl getroffen?
    «Kommt dir das nicht unfair vor?», fragte sie Peter.
    «Ronnie, vieles ist unfair. Was Ernestine Florucci zugestoßen ist, ist auch unfair.» Er löste sich von ihrem Blick und sah zur Decke hinauf. «Aber Lizzy wurde nicht von einem Hasen entführt. Wir haben sie verloren, aber auf eine andere Weise. Das ist der Punkt, den ich in deiner Zeichnung nicht

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