Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
Vom Netzwerk:
könnte. Lizzy war auch so ein Thema, das niemals zwischen ihnen zur Sprache kam, nicht ganz so tabu wie Daniel, aber beinahe.
    Es war so weit gekommen, dass Rhonda auch sich selbstkaum je gestattete, an Lizzy zu denken. Es war, wie wenn man eine Tür hinter sich zuschlägt – ein Kniff, den sie von Peter gelernt hatte. Aber nun hing ihre ehemalige «Zwillingsschwester» vor ihr an der Wand. Sie war wieder da, der verdammte Hase hatte die Tür geöffnet.
    Als Lizzy nach Daniels Verschwinden das Reden eingestellt hatte, hatte das anfangs keiner so richtig ernst genommen. Jeder verstand, dass sie außer sich war, und wenn sie ein bisschen dramatisch reagierte – nun, das war eben schon immer ihre Art gewesen, oder? Sie würde schon wieder reden, wenn sie so weit war. Aggie selbst war Daniels wegen so fassungslos, dass sie Lizzys Schweigen kaum zu bemerken schien. Schließlich ging sie aber doch zum Arzt mit ihr – zu einem Sprachtherapeuten, zu einem Psychiater und sogar zu einem Neuropädiater drüben in Dartmouth, der eine körperliche Ursache ausschloss und von «selbstgewählter Stummheit» sprach. Die Diagnose lautete im Wesentlichen so, wie auch die Laien in Pike’s Crossing vermutet hatten: Lizzy würde wieder reden, wenn sie so weit war.
    Monate vergingen, dann Jahre, und noch immer entschied Lizzy sich für die Stummheit. Eines Morgens, zwei Wochen nach ihrem ersten Tag in der Highschool, verschwand sie dann plötzlich. Peter hatte ihr angeboten, sie zur Schule mitzunehmen, doch sie hatte abgewinkt. Er hatte sie als Letzter gesehen und noch beobachtet, wie sie mit der Büchertasche über der Schulter zur Lake Street ging.
    Aber die Lizzy in Rhondas Bild kam aus einer viel früheren Zeit. Genau wie im Traum hatte Rhonda die Captain-Hook-Lizzy ins U-Boot gesetzt. Jene Lizzy, die täglich eine Viertelstundean der Reckstange in der Tür ihres Schranks gehangen hatte, um größer zu werden. Jene Lizzy, die mit einer gesunden, kräftigen Stimme verrückte Lieder geschmettert oder einem mit Kielholen gedroht hatte. Jenes Mädchen, das verbissen von einer Zukunft als
Rockette
geträumt hatte.
    Rhonda hatte das Bild zunächst mit Bleistift vorgezeichnet und war dann noch mit einem dünnen schwarzen Tintenstift über die gemalten Linien gegangen. Mit einer Schraffur hatte sie anschließend dem U-Boot einen dunklen Farbton verliehen, der allerdings ein paar Nuancen heller war als das finstere Meer. Für die Darstellung des Wassers hatte sie Tusche zu Klecksen und Wirbeln verlaufen lassen und den Ozean mit albtraumhaften Kreaturen gefüllt, deren Gesichter in dem wilden Gebrodel kaum auszumachen waren. Es war wie bei einem dieser Suchbilder, die sie früher in der Schule bekommen hatte – eine Landschaft, in der man versteckte Einzelheiten finden sollte: eine Schubkarre, eine Uhr, eine Schaufel oder einen Teekessel. Nur dass in Rhondas Ozean Monster lauerten. Ein Riesentintenfisch, ein Haifisch mit schrecklichen Zähnen und ein Drache mit Flossen. Es gab auch Geister in den Wellen, grauenhafte Phantome ohne echten Körper, von denen man nur die zum Schrei aufgerissenen Mäuler sah.
    Hinter den Bullaugen des U-Bootes konnte man den Hasen und die beiden Mädchen nach draußen ins dunkle Meer spähen sehen. Der Hase war riesig; er stand vorn, und mit seinen Pfoten, die so groß wie die Köpfe der Mädchen waren, bediente er die Schalthebel. Seine Augen funkelten vor Wut, während er mit dem U-Boot immer weiter voranpreschte. Die Mädchen sahen so aus, als hätten sie sich inden Schrecken gefügt und den Gedanken an Rettung aufgegeben.
    «Und was soll das jetzt also bedeuten?», fragte Peter und strich sich das Haar aus dem Gesicht, sodass die Narbe zum Vorschein kam, die ihn mit Rhonda verband. Er wandte sich von dem Bild ab und blickte Rhonda in die Augen.
    Ihr Herz klopfte plötzlich so heftig in der Kehle, dass sie nicht sprechen konnte. Sie wollte unbedingt, dass Peter die Zeichnung verstand. Halb hoffte sie, er würde ihr sagen, was sie bedeutete. Aber er wirkte ein bisschen verärgert, als nähme er ihr übel, dass sie ihn wegen dieses Kinderkrams den weiten Weg in die Stadt hatte machen lassen. Was er wohl Tack erzählen würde? Ob er sich lustig über sie machen würde?
    Die arme, verrückte Rhonda. Rhonda und ihre blöde Zeichnerei. Rhonda, die sich einfach nicht damit abfinden kann, wie die Dinge nun mal sind. Die Arme.
    «Es ist einfach nur ein Bild, Peter», brachte Rhonda wie zu ihrer Verteidigung heraus.

Weitere Kostenlose Bücher