Die Insel der verlorenen Kinder
– «… Ding da hab ich mich sicherer gefühlt. Einfach zu wissen, dass er da lag, hat anscheinend schon gereicht. Ich bin dann sofort wieder eingeschlafen.»
Peter wog den abgenutzten alten Hammer in der Hand. Er warf Rhonda einen Blick zu, den sie nur zu gut kannte.
Arme Rhonda
, hieß dieser Blick. Er erhob sich vom Bett und ging durch den Flur, den Hammer in der Hand. Sie sah zu, wie er ihn in die Küchenschublade legte, wo er hingehörte.
«Willst du einen guten Rat?», rief er zu ihr zurück, nachdem er aus der Küche gekommen war und sich zum Gehen wandte. «Zeichne lieber Obst. Dann schläfst du besser.»
Rhonda stand im Eingang ihres Schlafzimmers, sah, wie die Wohnungstür zufiel, und hörte, wie Peters Schritte auf der Treppe verklangen. Der Motor seines Pick-up sprangan und jaulte fast ein bisschen auf, als er den Gang einlegte und mit quietschenden Reifen losfuhr. Abschiede hatten ihm noch nie gelegen.
Rhonda drehte sich um und betrachtete das Bild über ihrem Bett aus der Distanz, voll Mitleid für die Mädchen, die im U-Boot steckten. Angestrengt sah sie auf die Geistergesichter, die um das U-Boot herumwirbelten. Und – oder bildete sie sich das nur ein? – das größte Gesicht, das grausamste, das riesig und drohend über dem U-Boot schwamm und mit einem bösen Augenzwinkern und einem wütend verzerrten Mund auf die Mädchen blickte, sah Peter verdammt ähnlich.
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30. Juni 1993
«Meine ganze Highschool-Zeit über hatte ich auf diesen Wagen gespart», erzählte Clem. Seite an Seite saßen sie in seinem alten Cabrio, das neben der Bühne stand. Im Moment stellte der Wagen das Piratenschiff dar, und über ihnen wehte eine gemalte Totenkopfflagge von einem Pfahl herab, der in der Mitte der vorderen Sitzbank befestigt war. Clem hielt das Steuerrad und bewegte es sanft mit den verbliebenen drei Fingern seiner rechten Hand. Rhonda überlegte, dass der Körper vielleicht seine eigenen Erinnerungen besaß; und wenn Clem die Hand ans Steuer legte, konnte er vielleicht jeden seiner Finger spüren, alle fünf, so wie sie im Sommer nach seiner Highschool-Zeit dort gelegen hatten, wenn er mit heruntergeklapptem Verdeck über die leeren Straßen kreuzte.
«Ein Chevrolet Impala 1961. Ein richtiger Oldie. Als ich ihn kaufte, war er ein Wrack. Ganze Nächte und Wochenenden haben Daniel und ich damit verbracht, ihn wieder instand zu setzen. Ich sag dir, Ronnie, als wir damit fertig waren, war er eine Schönheit. Ich war so stolz auf diesen verdammten Wagen.»
Rhonda nickte und fummelte am Handschuhfach herum. Normalerweise mochte sie es, wenn ihr Vater von früher erzählte. Er bekam dann einen verträumten Blick und verlor sich so sehr in seinen Erinnerungen, dass er manchmal fast ihre Anwesenheit zu vergessen schien. Das gab Rhonda das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein; als gäbe es ein geheimes Fenster in die Vergangenheit ihres Vaters und erwürde es nur für Rhonda aufmachen. Ihre Mutter hatte nie viel erzählt und Rhonda lieber Geschichten aus Büchern vorgelesen: Märchen über edle Prinzen und schöne Jungfrauen. Ganz ähnlich wie die Liebesromane, in denen sie sich selbst jeden Tag verlor.
Doch diesmal war alles anders. Clem würde ihr etwas erzählen, was sie vielleicht lieber gar nicht hören wollte.
«Ich hab immer Aggie mitgenommen. Damals, als ich sie kennengelernt habe. Als sie noch in der Sägemühle jobbte. Daniel kam auch manchmal mit. Wir gingen dann fischen. Zu dritt saßen wir an einem kleinen Lagerfeuer am Fluss, brieten Forellen, rauchten und dachten:
Besser wird es nicht mehr
.» Clem lächelte so wehmütig, dass sich Rhonda der Magen zusammenzog. Das hier war nicht
ihre
Geschichte, sondern die Geschichte dessen, wie es hätte sein
können
, aber dann wäre Rhonda gar nicht da. Es war die Geschichte aus einer Zeit, in der Clem sein Leben auch ohne Rhonda oder ihre Mutter als vollkommen empfunden hatte.
«Ich war neunzehn, als ich Aggie bat, mich zu heiraten. Ich fuhr mit ihr in so einem alten Alukanu, das ich damals hatte, mitten auf den Nickel Lake hinaus. Das Wasser hatte sich darin gesammelt, und meine Hose war nass. Ich zog den Ring in seiner Samtschachtel aus der Tasche meiner Anglerweste. Als sie ja sagte, konnte ich es kaum glauben.»
Als Rhonda noch ganz klein gewesen war, hatte die Geschichte, wie ihre Eltern sich kennenlernten, zu ihren Lieblingserzählungen gehört. Im Frühjahr 1981 besuchte Clem eine Forstwirtschaftskonferenz in Hanover, New Hampshire.
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