Die Insel der verlorenen Kinder
das war …»
Sie legte ihm den Finger auf die Lippen.
«Still.»
Warren sah leicht beunruhigt drein.
«Was fühlst du im Moment?», fragte sie ihn.
«Zu viel», antwortete er.
«Gut», sagte sie. «Das ist genau richtig.»
Sie begann sein Hemd aufzuknöpfen. Dann machte sie sich mit ihrer Bluse zu schaffen. Erst als sie nackt im Bett lagen und sich küssten, sagte sie ihm die Wahrheit.
«Ich hab das noch nie gemacht», flüsterte sie.
Warren wich zurück. Doch sie zog ihn wieder auf sich.
«Ich möchte, dass du der Erste bist», sagte sie.
«Bist du dir sicher?», fragte er.
Sie war sich sicher.
Während Warren nackt an ihrer Seite schlief, träumte Rhonda vom Hasen. Im Traum war sie wieder ein Kind und jagte den riesigen weißen Osterhasen durch den scheinbar endlosen Wald hinter ihrem Haus. Dornranken zerkratzten ihr das Gesicht. Sie stolperte über Wurzeln und lose Steine. Der Hase rannte vor ihr her, blieb zwischendurch stehen, wartete, bis sie ihn beinahe eingeholt hatte, und schoss dann wieder durch die Bäume davon. Bald hatte sie sich verirrt und kannte die Gegend nicht mehr. Dann blickte sie gerade im richtigen Moment auf, um den Hasen in ein Kaninchenloch schlüpfen zu sehen, und folgte ihm eifrig, ohne jede Furcht.
Das Kaninchenloch war ein feuchter Erdtunnel, der nach Würmern und Maden roch, nach tiefen unterirdischen Gerüchen.
Hier
, dachte sie,
hier finde ich das, was ich suche
. Aber im Traum fiel ihr nicht ein, was das war.
Peter!,
rief Rhonda im Traum dort in der dunklen Höhle im Inneren des Kaninchenbaus, wo der Hase sie hoffentlich hören und Mitleid mit ihr haben würde.
Peter.
Und dann tauchte er auf. Nicht der Hase, sondern
ihr
Peter, nur dass er wieder jung war – dreizehn oder vierzehn vielleicht – und dass er das Kostüm aus dem Stück trug, einen grünen Blätterkittel mit einem Laubkranz auf dem lockigen Haar. Als er in die Höhle trat, füllte diese sich mit Licht, als hätte er die Macht, die Dunkelheit zu vertreiben und die Ängste zu bannen. Sie betrachtete ihn ganz genau, ihren schönen Peter, und fuhr mit den Fingern überdie Narbe unmittelbar über dem rechten Auge. Eigentlich hatte er diese Narbe erst später bekommen, aber im Traum wunderte sie sich nicht darüber, dass er die Narbe da schon hatte. Dort tief unten im Kaninchenbau warf sie die Arme um ihn und hielt ihn für ein Wunder. Sie suchte seinen Mund im Zwielicht und küsste ihn, ungeheuer glücklich, dass er sie gerettet hatte, ungeheuer glücklich, weil sie gemerkt hatte, dass der Hase sie hierher hatte führen sollen, dass dies hier der Ort war, an dem sie sein sollte, jetzt und für immer. Doch dann wich sie zurück und sah, dass er Blut an den Händen und im Gesicht hatte. Die Wunde an seiner Stirn hatte sich wieder geöffnet und blutete. Er hielt einen winzigen, zerknitterten Zettel in der Hand.
Unsere Ängste
, flüsterte er.
Erinnerst du dich?
s?
4. Juli 1993
Aus der Sargwerkstatt gingen Peter und Rhonda über die Zufahrt zu ihm nach Hause. Daniel war nirgends zu sehen. Aggie wusch in der Küche ab, scheuerte die Kuchenform sauber und wusch die großen Plastikschüsseln, in denen Salat gewesen war.
«Nacht, Wendy», rief Peter und ging in sein Zimmer.
Rhonda fand Lizzy in deren eigenem Zimmer. Sie lag in ihrem Captain-Hook-Kostüm auf der Bettdecke und stellte sich schlafend. Rhonda merkte, dass sie das nur vorspielte, hatte aber sowieso keine Lust, mit ihr zu reden. Lizzy hatte für Rhonda ein Nachthemd auf das zweite Bett gelegt. Es war schon die ganze Woche geplant gewesen, dass sie die Nacht bei Lizzy verbringen würde, und obwohl Rhonda am liebsten heimgegangen wäre, wollte sie sich nicht mit Justines unvermeidlichen Fragen herumschlagen müssen:
Habt ihr euch etwa gestritten? Alles in Ordnung mit dir?
Schließlich stellte Justine ohnehin immer tausend Fragen, wenn Rhonda von einer Nacht bei Lizzy zurückkam:
Was habt ihr gemacht? Wie lange seid ihr aufgeblieben? War Aggie da? Und Peter? Oder Daniel?
Rhonda schlüpfte in ihr Nachthemd und legte sich in das freie Bett. Es sah genauso aus wie Lizzys Bett und stand direkt neben ihm. Der Raum war von einem «Schaukelpferd»-Nachtlicht, das neben dem Schrank in der Steckdose steckte, dämmrig erleuchtet. Rhonda konnte die Bleistiftstriche und Daten erkennen, mit denen Lizzy ihr Wachstum an der Schranktür maß. Die letzte Messung stammtevom 1. Juli. Lizzy hatte also den Traum, eine
Rockette
zu werden, doch noch nicht
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