Die Insel der verlorenen Kinder
gewusst, dass sie tot und nicht einfach nur bewusstlos war? Warren beschrieb den zerschlagenen kleinen Kopf, den unnatürlichen Winkel, in dem er zum Körper lag, die starren Augen und die langen, verzweifelten Minuten, in denen er Puls und Atmung überprüft hatte … Nein, sie war tot, und es war seine Schuld. Er geriet in Panik und rannte kopflos mit Ernie in den Armen zum Wagen zurück.
«Ich wusste, dass ich sie nicht zurückbringen konnte. Aber ich konnte sie auch nicht dort lassen. Daher … beschloss ich, sie zu vergraben.»
Rhonda schüttelte den Kopf.
Warum?
, hätte sie gerne geschrien. Und sie begriff, was das Ganze letztlich war: keine abgrundtief böse Tat – nein, Warren hatte sich einfach ein paarmal falsch entschieden. Grässlich falsch entschieden. Er hatte Geld gebraucht, dieses schien leicht verdient, er hatte die Chance auf einen spannenden Dokumentarfilm gewittert, einen einfacheren Weg als geplant nehmen wollen und schließlich nur noch panisch gehandelt. Jede Entscheidung war ihm zu ihrer Zeit wie eine gute Idee oder vielleicht sogar wie die einzige Option erschienen. Rhondanahm ihn jetzt als das wahr, was er wirklich war: als verängstigten Neunzehnjährigen.
«Ich näherte mich wieder dem See und fand einen alten Pfad durch den Wald. Ich trug sie in den Armen. Sie war so leicht.» Wieder hielt er inne.
«Und wo genau war das, Warren?», fragte Crowley.
«Hm? Oh, irgendwo auf der Nordseite des Sees, denke ich. Ich habe irgendwie die Orientierung verloren. Aber da war eine Lichtung in einem Kiefernwäldchen. Dort fand ich eine Grube. Wie die Überreste eines alten Brunnens oder so. Ich legte die Leiche auf den Grund und schichtete Steine und Erde darüber.»
«Und Miss Clarks Wagen?»
«Ich steckte das Hasenkostüm in meine Sporttasche und fuhr mit dem Wagen zurück, genau wie geplant. Dann gab ich Pat den Anzug zurück und sagte ihr, alles sei nach Plan verlaufen: Ich hätte Ernie am Rand des Naturschutzgebiets in der Nähe der Route 6 abgesetzt, genau wie vereinbart.»
Crowley blickte skeptisch. «Und Sie haben erwartet, dass sie die Wahrheit nicht herausfindet?»
Warren dachte nach.
«Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Aber es kam mir unmöglich vor, die Wahrheit zu sagen. Ich konnte die Wahrheit ja selbst kaum glauben, verstehen Sie … Ich dachte ständig, wie ist das nur passiert? Wie
konnte
das passieren? Pat fing bald an, sich Sorgen zu machen, sie fragte sich, was mit ihrem tollen Plan nur schiefgelaufen sein mochte, und in den nächsten Tagen wiederholte ich die Lüge ihr gegenüber so oft, dass ich sie schließlich selbst glaubte. Irgendwann war ich selbst fast davon überzeugt,dass das kleine Mädchen bald einfach aus dem Wald herausspaziert kommen würde. Ich konnte es so deutlich vor mir sehen. Mit strahlendem Gesichtchen würde sie allen von ihren Abenteuern auf der Haseninsel erzählen. Es kam mir so … möglich vor.»
Rhonda nickte, sah von ihm weg und konzentrierte sich auf die Monitore, die seinen Puls und Blutdruck überwachten.
«Rhonda, ich habe nicht … Es tut mir leid. Dass ich dich belogen habe. Dass ich dich auf die falsche Fährte geführt habe. Weißt du, das mit Peters Schlüsselbund … Den hatte ich selbst von Pat bekommen und auf dem Friedhof fallen lassen, als wir da waren, damit du ihn findest. Ich habe alles getan, was ich nur konnte, um dich von der richtigen Spur abzulenken.»
«Dann war also alles nur vorgetäuscht?», fragte Rhonda und biss sich wieder auf die Lippen.
Ich werde nicht weinen. Keiner wird sehen, dass ich zusammenbreche. In dieser Geschichte gibt es schon genug Opfer.
«Das, was zwischen uns passiert ist. Noch so ein Trick, um mich abzulenken?»
«Nein!» Seine Augen schimmerten feucht, und man sah ihm an, dass er die Wahrheit sprach. «Mein Gott, nein! Rhonda, das, was zwischen uns war … war … das einzig Ehrliche, was ich seit meiner Ankunft in Pike’s Crossing gemacht habe.»
Rhonda nickte, war sich aber nicht sicher, was sie glauben sollte. Sie wusste, dass sie angefangen hatte, sich in Warren zu verlieben. Und ihr Zusammensein hatte ihr geholfen, Peter loszulassen – auf eine nicht genau definierbare Weise einen Schritt vorwärtszugehen.
«Ich glaube, ich wollte schon die ganze Zeit über, dass du die Wahrheit herausfindest. Damit all das endlich vorbei ist. Ich habe sogar versucht, es dir zu erzählen. Erst gestern Nacht und dann am Morgen. Aber ich habe es nicht
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