Die Insel der Verlorenen - Roman
gemeiner Soldat auch. Dieser Groll war ihm so nah, so vertraut, so familiär, er hatte ihn in jeder Minute seines Lebens genährt, dachte Ramón, und wunderte sich selbst über diese Erkenntnis.
Von klein auf hatte er mit dem unguten Verdacht gelebt, dass sich irgendein nicht greifbares höheres Wesen an ihm schadlos hielt und ihn für irgendetwas bestrafte. Und in jenem Moment am Kai von Clipperton blähte sich diese Strafe zu einem alten, längst untergegangenen englischen Begriff spanischen Ursprungs auf. Zusammengesetzt aus sechs Buchstaben, war ihm dieser noch bis vor wenigen Tagen gänzlich unbekannt gewesen, und trotzdem wusste er auf Anhieb, dass er seit jeher sein Wohl und Wehe beeinflusste. Es war die kabbalistische Vokabel maroon , das degenerierte cimaroon , das sich seinerseits von »cimarrón« ableitet, und in irgendeiner logischen Assoziationskette zur Bezeichnung der Todesstrafe wurde, welche die englischen Piraten in der Karibik den Verrätern aus den eigenen Reihen angedeihen ließen: Mitten im Meer wurden sie auf einer verlassenen Insel ausgesetzt, mit ein paar Tropfen Wasser in einer Flasche und einer Kugel in der Pistole, wenn ihnen die Todesqualen unerträglich würden.
Maroon , sagte Arnaud vor sich hin, fasziniert vom Klang jenes Wortes, maroon , und spürte den hypochondrischen Sog. Er stand allein am Pazifik und leistete keinen Widerstand. Ein heißer Wind wischte ihm über die Wimpern, summte ihm in den Ohren, ließ in seinem Nacken das Tuch zum Schutz gegen die Sonne flattern. In einer endlosen Folge schoben sich die immer gleichen Wellen schicksalsergeben vor und zerschellten am Holz unter seinen Füßen, während er sie hypnotisiert beobachtete und sich vom monotonen Rauschen einlullen ließ: maroon , flüsterte er, maroon .
Er hatte sich in seiner Melancholie häuslich eingerichtet und nicht die Absicht, sie zu verlassen, als sein Blick auf Alicia fiel, die ein ganzes Stück weiter hinten ein Fass die steile Treppe zu ihrem Haus hinaufbugsierte, das sicherlich das Doppelte ihres Körpergewichts wog. Sie schaffte zwei Stufen nach oben, dann ließ die Schwerkraft sie drei Stufen zurückfallen, aber sie setzte jedes Mal unbeirrt wieder von Neuem an. Ramón fand, dass der Eifer, den seine Frau an den Tag legte, ein wahnwitziger Kampf gegen die brütende Hitze war, dass ihre vergeblichen Bemühungen nur die entspannte Stille störten, die auf der restlichen Insel lag. Er ahnte, wie viel Kraft sie diese fruchtlose Anstrengung kostete, wie die Porzellanhaut ihres Gesichts von kleinen Schweißperlen bedeckt war, und dass das schwindende Schiff, der Groll und die Vorahnungen, die ihm die Kehle zuschnürten, dass die grausamen Gepflogenheiten der Piraten in der Karibik und der menschlichen Gattung im Allgemeinen sie vollkommen kalt ließen. Warum in aller Welt bestand sie auf solchen Arbeiten, anstatt sie den Soldaten zu überlassen? Warum verstand sie nicht, dass man sich an einem unheilvollen Tag wie diesem nicht um Dinge wie Fässer zu kümmern hatte?, dachte Ramón ungehalten und eilte ihr zu Hilfe.
Als er bei ihr ankam, war es ihr bereits gelungen, ihr Gepäckstück bis zur Veranda hinaufzuhieven.
Dann verging ein Tag nach dem anderen. Die Corrigan II war weg und hatte sie auf Gedeih und Verderb dort sitzen lassen, aber jetzt tauchte etwa hundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie angelegt hatte, die Kinkora auf und blieb. Besser gesagt, ihr Gespenst. Oder das, was von ihr übrig war. Es war ein japanisches Schiff, das vor Jahren, in einer blinden Nacht die Insel nicht sah und ihr in die Falle ging: Es zerschellte am Atoll, als gäbe es dieses gar nicht. Denn Clipperton lauerte ihm geduckt und unsichtbar auf, fing es in ihrem Riff und zerfetzte ihm mit der Unberechenbarkeit seiner scharfen Korallen den Rumpf.
Arnaud fühlte sich vom düsteren Daueranblick der Kinkora verfolgt, durch deren verbogenes Gerüst der Wind traurige Weisen des Schiffbruchs pfiff, und fasste den Entschluss, sie Planke für Planke abzutragen. Er konnte die dunkle Energie, die ihre Überreste ausstrahlten, nicht ertragen, sie verursachte ihm stechende Kopfschmerzen und Zahnweh. Er wollte dieses Denkmal des Untergangs von seiner Küste entfernen und seinen Einfluss neutralisieren, indem er alle noch verwertbaren Teile als Rohstoffe zum Bau von ordentlichen Behausungen für die Soldaten verwendete.
Wie immer bei Ramón, schlug seine Stimmung ohne Vorwarnung um und er fiel von der Depression in Euphorie. In den
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