Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
einrichtete. Unter seiner rigorosen Aufsicht wurden dort Rationen je nach der Größe der Familie ausgegeben, Mais, schwarze Bohnen, getrockneter Chili, Reis, Kaffee, Mehl, Getreide und Dörrfleisch. Samstagmorgens bekamen die Soldaten ihren Sold, und da es keine Kneipen gab, wo sie ihn vertrinken konnten, kauften sie sich in Arnauds Laden Artikel, die unter den gegebenen Umständen zum Luxus zählten, wie Seife, Gewürze und Bier. Die anfangs häufigen Vorratdiebstähle hörten durch die von Arnaud verhängten Strafen auf, die vom Auspeitschen – für die gravierendsten Fälle – bis zum Ausheben von Gräben in der prallen Sonne reichten.
    Neben dem Laden richtete Ramón mit dem mitgebrachten Verbandszeug, den Desinfektionsmitteln und Arzneien eine Apotheke ein. Angeleitet durch seine medizinischen Nachschlagewerke vom Festland praktizierte er dort freizügig zunächst als Apotheker, dann, als er mehr Selbstvertrauen gewann, als Arzt, und schließlich, als die Umstände ihn dazu nötigten, auch als Chirurg. Seit seiner Kindheit hatte er ein ungesundes Interesse an Wunden, Unfällen und Krankheiten, das sich im Erwachsenenalter, als er beim Apotheker in Orizaba als Gehilfe in die Lehre ging, zur Leidenschaft für Heilverfahren und Medikamente mauserte. So bot ihm Clipperton Gelegenheit, einen Beruf auszuüben, den er gerne studiert hätte, wenn es möglich gewesen wäre.
    In den ersten Monaten verordnete er nichts anderes als Mundwasser aus Methylen, das im Volksmund »Holzalkohol« hieß, gegen Halsschmerzen, Enzianauflagen gegen Schürfwunden, Bittersalzklistiere gegen Magenschmerzen, Ipecacuana-Pulver als Abführmittel. Er wusste, dass Arándula vertiginosa, im Handel bekannt als Agua zafia , richtig dosiert, ein unersetzlicher Helfer gegen saures Aufstoßen, fehlenden Appetit auf Essbares und fehlenden sexuellen Appetit war. Wenn der Patient jedoch zu viele Tropfen einnahm, dann starb er innerhalb weniger Stunden mit blauen blasigen Lippen. Das Agua zafía war in blaue Fläschchen abgefüllt, die Ramón wegen ihrer tödlichen Wirkung fest unter Verschluss hielt.
    Wenn er Verletzungen durch Krabbenbisse und Verätzungen durch verdorbenes Wasser kurieren musste, ließ er ein Kind rufen und auf die betroffene Hautstelle urinieren. Bei gewöhnlichen Erkältungen rieb er den Oberkörper mit heißem Glyzerin ein und umwickelte ihn dann mit Papierstreifen. Sobald das Glyzerin erkaltete, wurde es unter dem Papierverband hart und der Grippepatient musste stundenlang starr wie eine Mumie daliegen. Später versorgte er auch ernsthafte Verletzungen, die sich die Männer bei ihren Messerstechereien zuzogen, weil die Gefangenschaft auf der Insel sie zur Verzweiflung trieb und reizbar machte; oder von den Prügeleien unter den Soldatenfrauen herrührten, die aus Eifersucht aufeinander losgingen. Auf diese Weise machte sich Ramón mit der Notfallmedizin vertraut und übte fleißig für das, was er Monate später würde bewältigen müssen: Entbindungen, Seuchen, Todesfälle.
    Der Gemüseanbau wurde zum Ritual. In der beschränkten, versengten Insellandschaft waren die hundert Quadratmeter schwarzer feuchter, von grünen Trieben gesprenkelter Mutterboden so etwas wie eine Fata Morgana. Dieses Wunder befreiten die Leute von Unkraut und wässerten es mit der Hingabe einer Mutter an ihr Erstgeborenes, und am Nachmittag, bevor es dunkel wurde, versammelten sie sich alle dort, auch diejenigen, die zu weiter entfernten Aufgaben abgestellt waren, um die Fortschritte zu begutachten. Dann standen sie in Grüppchen neben den Pflanzrillen, teilten den Schreck über einen Regenwurm in den Kohlblättern und spendeten den ersten zarten Spitzen des Möhrengrüns Beifall. Da dieses Treffen Bestandteil ihres Tagesablaufs wurde, war der Rand des Gemüsegartens schon bald ihr Versammlungsort und begann, die Funktion eines Dorfplatzes zu erfüllen.
    Die Soldaten verbrachten ihre Tage mit der Gemüsezucht, dem Schreinern von Stühlen, dem Schweinehüten, dem Zählen von Guano-Säcken, während sich die militärische Disziplin aufs Minimum reduzierte. Dazu gehörte der Morgenappell mit Fahnengruß und Antreten, das Reinigen von Waffen und Uniformen sowie das Exerzieren, soweit die verfügbare Fläche dies überhaupt zuließ. Der regelmäßige Dauerlauf rund um die Insel wurde bald abgeschafft, weil ihnen der mit scharfen Bruchstücken durchsetzte Korallensand Stiefel und Sandalen durchlöcherte und sie kein Schusterflickzeug dahatten. Die

Weitere Kostenlose Bücher