Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
Diógenes Mayorga ein Stück abseits. Der Kapitän gab zunächst umfangreiche bürokratische Erklärungen für seine verzögerte Ankunft ab, um dann eine unheilvolle Miene aufzusetzen:
    »Es steht nicht gut um unser Land«, sagte er und erzählte, dass Porfirio Díaz sich – in seinem achtzigsten Lebens- und dreißigsten Regierungsjahr – auf die sechste Wiederwahl vorbereitete, während sich plötzlich überall gegen ihn Widerstand regte. Die Oppositionellen nannten sich die Gegner der Wiederwahl und der Name ihres Anführers war Madero. Francisco Madero.
    »Dieser Madero ist ein Wicht mit Spitzbart, Erbe einer der fünf reichsten Familien des Landes. Die Porfiristen nennen ihn ›El Loco‹, den Verrückten, weil er Spiritismus betreibt und Astrologie. Er hält sich für ein Medium und redet mit den Geistern. Meiner Meinung nach ist er vielleicht verrückt, aber vor allem hoch gefährlich, weil er das Volk aufhetzt und Parolen schwingt wie: Basta mit Don Porfirio und seiner Tyrannei.«
    »Er redet mit Geistern?«, fragte Ramón ungläubig und riss die Augen auf.
    »Das wird ihm nachgesagt, Herr Gouverneur. Er nehme tagtäglich Kontakt auf mit seinem Brüderchen Raúl, einem Engelchen, das mit vier Jahren bei lebendigem Leib im Kerosin einer Lampe verbrannt sei. Aus gut unterrichteten Kreisen weiß man, dass Raulitos Geist von seinem Bruder Francisco Besitz ergriffen hat und diesem jetzt vorschreibt, was er tun soll. Und obwohl es die Seele eines unschuldigen Kindes ist, versteht sie erstaunlich viel von Politik. Wahrscheinlich ist Raúl im Jenseits hellsichtig geworden, weil er unter solchen Qualen sterben musste. Jedenfalls scheint Madero haarklein zu befolgen, was ihm der kleine Tote vorschreibt. Und was glauben Sie, befiehlt der ihm? Na ja, er soll Enthaltsamkeit üben, nicht rauchen, sein Vermögen an die Armen verschenken, Kranke heilen und keusch leben … Und Francisco Madero richtet sich nach diesen Vorschriften.«
    »Dann scheint dieser Madero aber eher ein Heiliger zu sein als ein Rebell«, fand Arnaud. »Was kann so ein Mann schon für einen Schaden anrichten?«
    »Na ja, das tut natürlich keinem weh. Nur hat sich jetzt herausgestellt, dass der Geist des kleinen Toten einen Umsturz anzetteln will. Offenbar hat er seinem Bruder nämlich befohlen, eine Kampagne gegen die Wiederwahl von Don Porfirio zu führen. Da Madero nicht den Mut hat, sich dem Kleinen zu widersetzen, weil er dessen übernatürliche Kräfte fürchtet, hat er auf ihn gehört und eine Hetzschrift verfasst, die sich verkauft wie warme Semmeln.«
    Arnaud lauschte reglos, während der Kapitän der El Demócrata atemlos weitererzählte und, ohne Luft zu holen, ein Wort ans andere reihte. Er sagte, dass Maderos Buch, nach seiner Meinung – er habe es selbst gelesen – dazu aufrufe, die Wiederwahl im kommenden Jahr zu sabotieren. Es handle von der Gründung einer Partei gegen den Präsidenten.
    »Und ich kann Ihnen versichern, Herr Gouverneur, dass diese verfluchte Gegenpartei schon viele Anhänger hat. Jeder, der unzufrieden, verbittert und undankbar ist, macht da mit. Francisco Madero ist der Anführer von denen geworden, die finden, dass 30 Jahre Herrschaft genug sind und Don Porfirio sich mit seinen achtzig lieber das Leichentuch als die Präsidentenschärpe umbinden solle.«
    Verstört von diesen überraschenden Neuigkeiten und ohne sie recht glauben zu können, verließ Ramón das Fest, das gerade erst in Gang kam, und ging im Dunkeln zu seinem Haus.
    Unterwegs traf er ein paar seiner Männer, die im Schein einer Öllampe hockten und die von ihren Familien mitgeschickten Briefe lasen.
    »Was gibt’s Neues zu Hause, Soldat?«
    »Lauter schlechte Nachrichten, Herr Hauptmann. Meine kranke Mutter ist allein, weil meine Brüder den Aufstand proben und sich der Meute angeschlossen haben … «
    »Und bei Ihnen, Chef?«
    »So ähnlich, Herr Hauptmann. Ein Onkel schreibt, dass die Landarbeiter von dem Gut, auf dem er arbeitet, mit den Aufständischen ziehen wollen. Er schreibt, dass er wahrscheinlich auch mitgehen wird.«
    Arnaud schloss sich in sein Arbeitszimmer ein und zündete die Kerosinlampe an, um die Tageszeitungen und Zeitschriften zu lesen, die sein Vorgesetzter, Oberst Avalos, für ihn ausgewählt und auf El Demócrata mitgeschickt hatte. Er verschlang sämtliche Ausgaben von El Imparcial , eine Seite nach der anderen, und suchte nach Berichten über die Unruhen, nach Hinweisen auf die Erschütterung des Landes, nach Meldungen

Weitere Kostenlose Bücher