Die Insel der Verlorenen - Roman
einmarschierten. Dem Bruder von Präsident Madero haben sie die Augen ausgestochen, das gesunde und das Glasauge, mit einer Säbelspitze. Maderos Anhänger sind allesamt erschossen worden. Den Präsidenten haben sie festgenommen, sie haben ihn genötigt, alles zu dementieren und ihn danach umgebracht. Der nordamerikanische Botschafter Henry Lane Wilson hat alles, was jetzt passiert ist, hintenherum angezettelt. Die Leute sagen, er hätte im Grunde nur noch selbst die Kugel abfeuern müssen, die Madero getötet hat, das wäre konsequent gewesen. Jetzt ist General Huerta an der Macht, ein Freund der Gringos … «
Plötzlich verstummte Arnaud und blieb mitten in seinem ungestümen Vortrag in der Zimmermitte stehen, um die Mitglieder seiner Familie anzuschauen. Die lauschten ihm gebannt, nachdem sich die Aufregung über seine Ankunft und die Angst, er könnte verschwunden sein, gelegt hatten. Sie wirkten von diesen Neuigkeiten erschrocken und blickten betroffen drein, verharrten jedoch reglos, ja geradezu erstarrt in ihrer unerschütterlichen Ruhe. In den weißen Laken lag Alicia und säugte das Neugeborene. Don Félix zog bedächtig an seiner Pfeife. Die beiden Kinder bauten mit Holzklötzen Türmchen ohne einen Laut von sich zu geben.
»Es ist sonderbar«, sagte Arnaud, jetzt leiser. »Draußen, vor den Fenstern, ist gerade die Welt eingestürzt. Aber hier drinnen ist sie immer noch vollkommen intakt … «
Er ließ sich bleiern und wie ein nasser Sack, mit Schuhen, dreckstarrend und mit fremdem Blut verschmiert, neben seine Frau aufs Bett fallen. Und schlief auf der Stelle ein.
Ein paar Tage später kehrte Don Félix nach Salina Cruz zurück, um in seinem Geschäft nach dem Rechten zu sehen, das er sich selbst überlassen hatte, während das Land erschüttert wurde. Der Abschied vom Vater, die Wochenbettdepression, die Serie gewalttätiger Ereignisse, die sie aus der Nähe miterlebt hatte, und der Geruch nach feuchten Teppichen in den Hotelfluren ließen Alicia in Melancholie versinken.
Eines Nachmittags sagte sie zu Ramón:
»Ich möchte, dass du mir ehrlich sagst, aus ganzem Herzen, was du von all dem hier hältst … «
»Von was?«
»Von all dem, was in unserem Land passiert.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Ramón in der Gewissheit, die Wahrheit zu sagen. »Ich denke gar nichts. Ich denke, dass das hier nicht mein Krieg ist.«
»Dann lass uns zurückfahren«, bat sie ihn fast flehentlich, wie er sie noch nie gehört hatte. »Bitte, lass uns nach Hause fahren. Clipperton ist ein Paradies gegen das übrige Mexiko.«
Ramón verharrte eine Weile in Schweigen. Dann zog er den frisch ausgestellten Marschbefehl vom Kriegs- und Marineministerium aus der Hemdtasche und strich seiner Frau mit einer Ecke über die Nase.
»Es wird noch ein Weilchen dauern, Liebste«, sagte er zu ihr. »Dieses Blatt Papier hat die vorherige Regierung unterschrieben. Jetzt müssen wir versuchen, es uns von Huerta bestätigen zu lassen … «
Maroon
Clipperton
– 1914 –
Der Ozean rund um Clipperton ist dicht und dunkel. Unterseeische Strömungen bewegen ihn aus der Meerestiefe, er ist voller Plankton und anderen verdüsternden, verunreinigenden Substanzen. Als Ramón und Alicia Arnaud alle Hürden genommen hatten und Anfang des Jahres 1914 aus Mexiko zurückkehrten, da war die Freude, wieder auf ihrer Insel zu sein, so groß, dass sie sich vornahmen, alles zu erkunden, was sie noch nicht kannten. In dieser Zeit war es, als sie unter der trüben, feindseligen Wasseroberfläche ein klares, unglaublich buntes Universum entdeckten, das wie ein Ring um das Korallenriff herumwuchs. Auf der Luvseite ließ es sich unmöglich erforschen: Die riesigen Brecher, die gegen das Riff schlugen, hätten jeden mitgerissen, der sich bis dorthin vorgewagt hätte. Aber auf der Leeseite, wo das Meer nach dem Aufprall auf die Felsplatte der Insel mit gebrochenem Willen ablief, war das durchaus möglich.
Mithilfe des alten Tauchhelms spähten Ramón und Alicia die Geheimnisse jener monumentalen Mauern aus Abermillionen winziger Korallenpolypen aus, die aneinandergeklammert dem Riff Atem, Willen und Bewegung verliehen. Immer von Neuem bestaunten sie den Einfallsreichtum und die barocken Schnörkel dieses Bauwerks, das sich verästelte, Pilze und Sonnenschirme, Blumenkohlröschen, Elch- und Hirschgeweihe, Dornen, Volants, Spitzen und Fransen hervorbrachte.
Außerhalb des Wassers, auf dem Trockenen, verbrannte und verblich die Sonne alles, worauf ihre
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