Die Insel der Verlorenen - Roman
Wirren der Revolution in die Hauptstadt verschleppt worden. Wie alle Zimmermädchen im Hotel, hatte auch sie eine gestärkte weiße Schürze umgebunden und ein rotes Tuch um den Hals geknotet. Auch wenn ihr Name auf Größe und Anmut schließen ließ, Altagracia besaß weder das eine noch das andere.
Sie war robust und zylindrisch wie ein Baumstamm, klein von Statur und hatte eine platte Nase. Zum Ausgleich für so viel Hässlichkeit hatte die Natur sie aber mit einem Schatz entschädigt: eine dichte Mähne blauschwarz glänzender Haare, die ihr bis zu den Knöcheln reichte. »Du hast Haare wie die Jungfrau von Guadalupe«, so pflegte ihre Mutter zu sagen, als Altagracia klein war. Trotzdem mochte sie das Haar nicht, weshalb sie es nie offen trug. Stets fasste sie es in Zöpfe und Schnecken zusammen. Wenn sie schon etwas von der Guadalupana haben sollte, dann hätte sie doch tausendmal lieber das spitze Näschen, die rosa Füße oder die wundersamen Augen gehabt.
Frau Arnaud bat sie, die beiden älteren Kinder zu hüten, während sie das dritte auf die Welt brachte und versorgte, und bot ihr dafür zehn Pesos im Monat, also doppelt so viel, wie sie im Hotel bekam. Altagracia war einverstanden und band ihr Leben von diesem Tag an unauflöslich an das der jungen Familie, die sie bis zum Vortag nicht einmal gekannt hatte. Ahnungslos schloss sie für zehn Pesos im Monat mit dem Schicksal einen dunklen Pakt.
Ein paar Tage später erblickte Olga das Licht der Welt, das Einzige der vier Kinder des Ehepaars Arnaud, das nicht auf Clipperton geboren wurde. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Insel sie nicht so prägte wie ihre Geschwister, obwohl sie Jahre ihres Lebens dort verbringen sollte. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Señora Olga Arnaud Rovira, das dritte Kind von Ramón und Alicia, geboren im Hotel San Agustín in Mexiko-Stadt, als Erwachsene kategorisch dagegen war, über Clipperton zu sprechen und mit Angehörigen oder Fremden einen Blick auf diese Zeit zurückzuwerfen.
Eines Nachmittags im Februar des Jahres 1913 befand sich Ramón auf dem Rückweg zu seinem Hotel, aber er konnte es nicht mehr erreichen. Ihn behinderten die Freischärler, die auf den Dächern Stellung bezogen hatten; die Kugeln, die in alle Richtungen pfiffen; die Leichen, die an den Straßenecken aufgestapelt lagen; die brennenden Barrikaden in den Straßen; die Häuser, die von Kanonen beschossen zusammenbrachen; die aufmarschierenden Soldaten, die jedes Durchkommen unmöglich machten. Er erkundigte sich nach allen Seiten, um herauszufinden, was plötzlich los war: General Victoriano Huerta wollte Präsident Madero stürzen, und die Stadt befand sich im Kriegszustand.
Da erkannte Ramón zum ersten Mal, seit er den Boden des Kontinents wieder betreten hatte, die ungeschönte Wirklichkeit des Umbruchs. Er stieß förmlich mit der Nase auf das Dilemma: Die Armee war gespalten und die Soldaten töteten ihre Kameraden in der gleichen Uniform. Zu welcher Seite gehörte er? Hatte er die Pflicht, die Regierung zu verteidigen oder die Aufgabe, die Putschisten zu unterstützen? Er fand nicht nur keine Antwort darauf, sondern merkte, dass es ihm im Grunde egal war. Es war ohnehin zu spät – für beides.
Zehn Tage und zehn Nächte lang irrte er, herumgeschoben von der stampfenden Menschenmenge, von hier nach da. Er bewegte sich dicht an die Häuserfassaden gedrückt vorwärts, um ja nicht aufzufallen, half Verwundeten, die sich wie Betrunkene an seinen Hals hängten, versuchte die kursierenden Gerüchte und Gegengerüchte für sich zu sortieren. Aber mehr als alles andere versuchte er verzweifelt, ins Hotel zurückzufinden, um zu wissen, was aus den Seinen geworden war.
Als er es endlich geschafft hatte, platzte er, mit irrem Blick, die Kleider rußgeschwärzt und zerfetzt, die Haare zu Berge stehend wie bei einem Wahnsinnigen, in die Zimmer seiner Familie. Frau und Schwiegervater schlossen ihn in die Arme, lange, sehr lange. Dann begann er in großen Schritten von einem Ende zum anderen im Zimmer auf und ab zu gehen, wie ein Raubtier im Käfig, und ließ alles heraus, was ihm auf der Seele brannte. Unsystematisch und lauthals erzählte er ihnen, was er gesehen, was er gehört hatte:
»Der Präsident der Vereinigten Staaten hat uns ausrichten lassen, es wäre jetzt genug mit unserer Revolution. Wenn Mexiko keine gescheite Regierung zustande brächte, dann würde er uns seine Kriegsflotte schicken mit viertausend Marines, die dann bei uns
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