Die Insel der Verlorenen - Roman
Strahlen fielen. Bis auf die Landkrabben, deren Panzer rot leuchteten, war alles matt, farblos und braun: der Südfelsen, der Sand, das Meer, die Basstölpel.
Alles verband sich zu einer ausgedörrten Monotonie, einer blassen Tarnfarbe in marmoriertem Kaffeebraun. Wie auf einem Foto, das zu lange in der Sonne gestanden hat und von einem milchigen Schleier überzogen ist, flossen Elemente und Tiere ineinander, verschmolzen, und man konnte ihre Umrisse nicht mehr erkennen.
Unter Wasser breitete sich dagegen eine unendlich farbenfreudige Welt aus. Vor ihrem dunklen Hintergrund funkelte und explodierte sie in phosphoreszierendem Violett, Mentholblau und Neongrün, flimmerte in transparentem Mauve und sonnendurchwirkten Goldtönen. Die harten, ausgetrockneten Texturen der Außenwelt wurden weich und schwammig, schleimig und organisch. Fantastische Formen tauchten in Felsspalten und Galerien auf: ganze Bünde rosafarbener Kinderfinger, aufgedunsene Lebern mit elektrisch aufgeladenen Haaren, durchsichtige Knollen mit hellen Augen, Kreaturen, die mit elastischen Armen ausgestattet waren, anmutig ihr Essen fassten und es in den Mund schoben.
Alicia und Ramón versanken vollkommen im zeitlosen Rhythmus jener Unterwasserwelt. Porfirio Díaz, Francisco Madero, Doña Carlota, sie selbst, Geschichte und Alltag verflüchtigten sich wie Gespenster angesichts der ewigen Gegenwärtigkeit von Kraken, die langsame Liebes- und Todestänze vollführten; von Steinen, die im Morgenrot hungrig erwachten und wahllos ihre Opfer verschlangen, seien es Sardinen oder untergegangene Ozeandampfer; von den schläfrigen Streifzügen des einsamen Zackenbarschs, dieses gutmütigen Ozeanriesen.
Die friedlichen Tage der Arnauds wären, ohne anderes Auf und Ab als das von Ebbe und Flut, so weitergegangen, hätte sie nicht am Morgen des 28. Februar eine drückende, erstickende Hitze geweckt, die sich wie ein feuchtes Handtuch auf Mund und Nase legte.
Gegen fünf Uhr in der Frühe befreite sich Ramón mit einem Fußtritt vom Laken, das ihm als Decke diente, und begann sich unruhig im Bett zu wälzen. »Dass das Meer so laut ist! Man hört es unentwegt, Tag und Nacht. Ich habe inzwischen ganz vergessen, was Stille ist. Ich vermisse die Stille«, murmelte er zwischen Hahnenschrei und Mitternacht. Er drehte sich von einer Seite auf die andere, stauchte das Kissen zurecht und versuchte, noch einmal einzuschlafen. Unmöglich. »Ich muss heute jähzornig aufgewacht sein«, fuhr er fort. »Sogar das Wellenrauschen bringt mich auf die Palme, obwohl ich es sonst doch mag.«
»Nicht du bist jähzornig, sondern das Meer. Es war noch nie so laut«, sagte Alicia und stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Kränklich und unentschlossen arbeitete sich am Himmel das Morgengrau vor. In seinem spärlichen Licht lag darunter völlig reglos das Bett des Ozeans. Die unbewegte Wasserfläche wirkte bleiern, zähflüssig und runzlig wie die Haut eines Elefanten.
»DasMerkwürdigsteist,dasssichdasWassernichtrührt«,bemerkteAliciaverwundert,alssiedasMeerbetrachtete.»EsknurrtwieeinwildesTier,aberesliegtsostilldawieeinToter.«
Sie hatten seit geraumer Zeit die Gewohnheit angenommen, sich um diese Tageszeit zu lieben, einfach so, ohne Vorsatz, indem sie sich von den Kräften leiten ließen, die nach der Nachtruhe von selbst erwachten. Doch an diesem Morgen lag irgendetwas in der Luft und machte ihre Körper schlaff, lähmte ihre Impulse ehe sie entstanden.
»Ich kann nicht«, sagte Ramón, richtete sich im Bett auf und schnappte nach Luft. »Ich ersticke.«
»Ich kann auch nicht«, sagte sie. »Ich ersticke auch.«
Ein schmutziges, klebriges Wetter sorgte dafür, dass ihre Kleider schon durchgeschwitzt waren, bevor sie fertig angezogen waren. Ramón ging in den Flur hinaus, um auf das Barometer zu sehen, es war ganz tief gesunken. Er dachte, es sei kaputt. Inzwischen war es zwanzig nach sechs, aber das trübe Tageslicht war seit fünf Uhr am Himmel unverändert, als hinderte die dichte Atmosphäre es daran, zur Erde zu gelangen.
»Was zum Teufel geht hier vor«, sagte er laut und konnte die eigenen vom tosenden Meer verschluckten Worte nicht hören. Er ging über den Strand zu den Baracken der Soldaten, um Leutnant Cardona zu sprechen, der ihm auf halber Strecke in die Arme lief.
»DerGringoSchultzsagt,dasseinOrkanaufunszukommt«,verkündeteihmCardona.»Ersagt,dasswirVorkehrungentreffenmüssen,weilesziemlichunangenehmwerdenkönnte.«
»Er ist kein Gringo, er ist
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