Die Insel der Verlorenen - Roman
Ramóns Kopf die altbekannte Maschinerie aus Schuldgefühlen, Reue und Ressentiments in Gang setzte. Nur ratterte sie diesmal bloß wenige Minuten.
Arnaud faltete den Brief vorsichtig zusammen, küsste ihn und schob ihn in die Hosentasche. Dann ging er unverzüglich zum Kai hinaus, um Diógenes Mayorga, den Kapitän der El Demócrata, zu empfangen, den er beim letzten Besuch, wegen seiner Nachrichten aus Mexiko, als nervös und aufgebracht in Erinnerung hatte. Diesmal wirkte Mayorga gelassen und selbstsicher. Er strahlte eine gewisse Anmaßung, ja Überheblichkeit aus. Ohne jede Eile begann er, Arnaud von den Neuigkeiten in der Heimat Bericht zu erstatten, und stocherte derweil ausgiebig in seinen Zähnen. Er riss den Mund weit auf und unterbrach sich mitten im Satz, um – neugierig, wenn nicht stolz – die kleinen Partikel zu begutachten, die er auf der Spitze seines Zahnstochers zum Vorschein brachte.
»Ihr seid wahrscheinlich die einzigen Mexikaner, die noch nicht Bescheid wissen«, sagte er. »Porfirio Díaz ist gestürzt worden.«
»Was?«, brüllte Arnaud, und seine runden Augen traten aus den Höhlen.
»Genau das. Der alte Porfirio ist gestürzt worden. Er ist an Bord eines Schiffes nach Paris geflohen, wahrscheinlich ist er inzwischen dort und pflegt seine Prostata.«
»Das glaube ich nicht, ich verstehe gar nichts mehr, was erzählen Sie denn da?«, Arnaud verlor die Fassung, seine Stimme überschlug sich. »Sie sind nicht richtig informiert, sehen Sie hier diesen Brief, hier steht, dass General Díaz in besserer Verfassung ist denn je, dass er an seinem Geburtstag seine ganze Macht demonstriert hat, dass es ein Ereignis war … «
»Ah ja«, unterbrach ihn Mayorga. »Das Fest. Das war das letzte Zappeln, bevor er untergegangen ist.«
»Und wer, bitte schön, soll General Díaz abgesetzt haben?«
»Na, wer wohl? Francisco Indalecio Madero natürlich.«
»Madero, dieser Wurzelzwerg mit dem Ziegenbart? Der Verrückte, der die Geister beschwört?«
»So zwergenhaft und so verrückt ist der aber gar nicht«, erwiderte Mayorga und vergrub den Zahnstocher zwischen dem Eckzahn und dem ersten Backenzahn. »Jedenfalls ist er nach der Verfassung jetzt unser mexikanischer Präsident. Habe ich Ihnen beim letzten Mal nicht erzählt, dass es einen Krieg gab? Den hat Madero gewonnen. Jetzt sind wir alle für ihn.«
»Ich verstehe gar nichts mehr. Wie können Sie denn für ihn sein? Wenn er doch Porfirio Díaz und unsere Armee von der Macht vertrieben hat? Oder haben Sie das nicht gerade selbst gesagt? Sehen Sie, wie Sie sich widersprechen? Also, was, bitte schön, ist dieser Präsident Madero, Freund oder Feind?«
»Wenn Sie sich ein bisschen anstrengen, Hauptmann Arnaud, dann werden Sie sicher dahinterkommen«, sagte Mayorga, ohne die Ruhe zu verlieren. Er sah Ramón mit gewinnendem Lächeln schräg von der Seite an. »Vorher war er ein Feind, aber jetzt, wo er gewonnen hat, ist er ein Freund. Er hat versprochen, dass er die Bundesarmee nicht absetzt, und bisher hat man jedenfalls nicht den Eindruck, dass er nachtragend ist, weil er uns alle auf unseren Posten lässt.«
»Das ist ja ein merkwürdiger Krieg«, sagte Arnaud einlenkend, aber mehr zu sich selbst.
In dieser Nacht taten Ramón und Alicia kein Auge zu. Stunde um Stunde redeten sie, diskutierten, erwogen und verwarfen Möglichkeiten, zankten sich, vertrugen sich, und einigten sich gegen Morgen darauf, dass die ganze Familie noch am gleichen Tag auf der El Demócrata ihre Rückreise nach Mexiko antreten würde. Sie mussten sich selbst von der neuen Lage ein Bild machen. Herausfinden, was die amtierende Regierung überhaupt mit Clipperton vorhatte.
»Ich glaube, dass das schief geht«, flüsterte Ramón Alicia während dieser endlosen, durchwachten Nacht ins Ohr. »Inzwischen bin ich fast sicher, dass diese kleine Insel hier nichts anderes war als eine persönliche Marotte von Don Porfirio. Der neue Präsident weiß wahrscheinlich noch nicht mal, wo zum Teufel sie liegt.«
WenigeStundenspätergingensiemitihrenbeidenKindernanBordundfuhrennachAcapulco,nachdemsieeinpaarSachenineinenKoffergepacktundCardonaAnweisunggegebenhatten,sichumalleszukümmern,bisArnaudzurückwar.
Während der Überfahrt sagte Kapitän Mayorga zu ihnen:
»Sie wollen nach Orizaba ihre Angehörigen besuchen? Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Mexikos Landstraßen sind derzeit mit Kindern nicht zu befahren. Dort werden Sie entweder von Viehhirten überfallen werden oder die
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