Die Insel der Verlorenen - Roman
eine Horde von nackten Halbwilden über die Felsen, bei Tag oder bei Nacht, aßen den Fisch roh und tauchten mit der Selbstverständlichkeit von Amphibien ins Meer ein und wieder daraus hervor.
Die aus Käfigen und Pferchen befreiten Haustiere streiften herrenlos, nach Herzenslust, über die Insel. Da die Menschen sie weder fütterten noch anders für sie sorgten, wurden sie kahl und mickerig und zerrupft. Im Kampf ums Überleben verlernten sie auch das ihrer Art gemäße Verhalten. Sie schärften ihren Jagdinstinkt, so dass man Hunde wie Hähne auf Landkrabben losgehen und sie reißen sah. Die Frauen gewöhnten sich an, Säuglinge nicht mehr in Bodennähe zu legen, aus Angst, die Schweine könnten sie anknabbern. Sogar bei der Fortpflanzung legten die Tiere Auffälligkeiten an den Tag, denn es gab nicht nur einen, der beteuerte, dass er Hennen sah, die sich mit Basstölpeln paarten.
Die Lebewesen veränderten sich, und auch ihre Umgebung. Die Holländer legten sich beim Wiederaufbau der Insel derartig ins Zeug, dass binnen weniger Wochen nicht nur das Haus der Arnauds, sondern auch ein Teil der Baracken, der Kai und einige Lagerschuppen wieder standen. Aber Wunder konnten sie schließlich auch keine vollbringen, weshalb das neu errichtete Clipperton einer Karikatur seiner selbst nicht unähnlich war. Die Häuser glichen Vogelscheuchen, zusammengezimmert mit Versatzstücken, Provisorien und Flickwerk, und hielten sich mit einem Bruchteil des Materials aufrecht, aus dem sie ursprünglich bestanden hatten. Innen waren sie leer, mit nichts anderem gefüllt als dem brackigen Geruch der Lagune, und außen waren sie schief und krumm. Die Insel wirkte mitsamt ihrer Bebauung eingesackt und armselig, umweht von der wehmütigen Stimmung eines Elendsviertels.
Nach dem Streit zwischen Schultz und Daría verabreichte Arnaud dem Deutschen Beruhigungsspritzen, die einen Elefanten umgelegt hätten, und gab Anweisung, ihm im Trinkwasser suppenlöffelweise Passionsblumenextrakt aufzulösen. Trotz dieser Maßnahmen war Schultz nur friedlich, wenn er schlief. Sobald er die Augen öffnete, schlug er kurz und klein, was ihm in die Quere kam. Einmal traf es ein Schwein, das sich schnüffelnd näherte und dem er mit einem Fausthieb den Schädel zertrümmerte. Andere Male traf es die Hühner. Und Feldwebel Irras Frau erzählte herum, dass der Deutsche sich an einem ihrer Kinder vergriffen und versucht habe, ihm die Kehle durchzuschneiden, allerdings nahm ihr das keiner ab, weil Irras Frau als Lügnerin in Verruf geraten war, und im Grunde alle wussten, dass Schultz kein Mörder war.
Eines Nachts zerriss er den Strick, der ihn an sein Haus fesselte und erschien nackt und laut brüllend in den Baracken. Sie fingen ihn wieder ein, gaben ihm Betäubungsmittel und legten ihn, statt an einen Strick, mit dem Hals an die Kette. Arnaud befahl, dass er jeden Morgen von seinem Pfahl losgemacht und von drei Männern, die die Kette gut festhielten, spazieren geführt werden sollte. Aber mit der Zeit drückten sich alle vor dieser gefährlichen und ermüdenden Aufgabe, so dass Schultz Tag und Nacht angebunden blieb.
Es dauerte ein paar Monate, da wurde er wieder zahm und brachte seine Stunden damit zu, um den Pfahl herumzutraben und unaufhörlich dasselbe vor sich hin zu brabbeln:
»Ich langweile mich, ich langweile mich und ich langweile mich. Ich langweile mich, ich langweile mich und ich langweile mich … «
Da schoben sie ihm ein Bett hin, damit er nicht mehr auf dem Boden schlafen musste; auch konnten die für seine Versorgung zuständigen Soldaten ihm das Wasser und das Essen nun in Bechern und Tellern hinstellen, ohne fürchten zu müssen, dass er ihnen damit die Köpfe einschlug. Als sie diese Zeichen der Besserung sahen, beschlossen sie, dass einer Frau die Aufgabe übertragen werden sollte, ihn zu waschen, zu pflegen und zu verköstigen.
Daría Pinzón wollte nichts davon wissen. Die Geschichten vom Fliegenden Holländer vermochten sie kaum zu beeindrucken, denn ihre Zuneigung galt inzwischen einem sommersprossigen Dicken namens Halvorsen. Ihre Tochter Jesusa, die schon pubertierte, verkuppelte sie mit einem langnasigen Lulatsch, der Knowles hieß.
Die Wahl für die Betreuung von Gustavo Schultz fiel auf Altagracia Quiroz.
Altagracia war das ehemalige Stubenmädchen aus dem Hotel San Agustín in Mexiko-Stadt, das die Eheleute Arnaud im Vorjahr zur Beaufsichtigung ihrer Kinder eingestellt hatten. Verlockt vom doppelten Lohn und weil
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