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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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sie die Vorstellung faszinierte, das Meer kennen zu lernen, war sie ihnen nach Clipperton gefolgt. Inzwischen bereute sie es. Sie fand nichts Besonderes am Meer, und auf der Insel stapelte sich ihr Lohn zu einem Geldbündel, ohne dass sie was damit anfangen konnte. Sie war 14 Jahre alt, klein und hässlich, hatte aber schönes Haar. Nur wusste das niemand, weil sie es stets bedeckt hielt.
    In den ersten Dienstwochen bei Señora Arnaud arbeitete sie so hart, dass ihr kaum eine Minute zum Luftholen blieb. Sie lief hinter den Kindern her, goss den Garten, wusch, stärkte und bügelte die Hemden, putzte das Silber, half in der Küche beim Maismahlen und beim Geschirrspülen. Nach dem Orkan war alles anders. Die Kinder ließen sich nicht mehr beaufsichtigen, es gab keine Wäschestärke mehr und auch keinen Garten zum Gießen und kein Silber zum Putzen, und mitten in der Not, die Clipperton heimsuchte, war ein einziges Gut im Übermaß vorhanden: Zeit.
    Altagracia bewaffnete sich mit Schwämmen, Bürsten und Wassereimern, dann machte sie sich vorsichtig, Schritt für Schritt auf den Weg zu Schultz’ Behausung. Sie sah ihn mit der Kette um den Hals dastehen, einsam, eingesunken und völlig verdreckt, wie ein großer weißer Bär in Gefangenschaft, und vergaß auf der Stelle ihre Angst.
    »Koooomm, kooomm!«, sagte sie beim Näherrücken, als riefe sie ein Haustier.
    Schultz knurrte erst, dann schnappte er sich aber das Stück Speck, das sie ihm hinhielt, und ließ sie zu sich. Behutsam fuhr sie ihm immer wieder mit dem Schwamm über den Rücken, bis die Schmutzkruste allmählich aufweichte. Knurrte er, so gab sie ihm ein Stück Speck, bis ihr eine halbwegs akzeptable Körperwäsche gelungen war. Dann half sie ihm in eine verschmutzte Hose, die sie zerknüllt in einer Ecke fand, das erste Kleidungsstück, das Schultz anzog, seit er den Verstand verloren hatte. Sie reichte ihm eine Tasse dampfenden Kaffee und gab ihm ein Stück Bratfisch. Er aß den Fisch, schüttete den Kaffee jedoch auf den Boden. Sie fegte die Stelle um sein Bett herum sauber, sammelte die brauchbarsten Hemden zusammen und ging.
    Tags darauf kehrte sie mit den ausgebesserten, gewaschenen und gebügelten Hemden zurück, und da der angebrochene Morgen kalt war, machte sie Feuer, um das Waschwasser zu wärmen. Der Deutsche reagierte so gutartig auf das lauwarme Wasser, dass er sich sogar die Zotteln waschen ließ. Altagracia ging voller Feingefühl zu Werke und massierte ihm den Kopf mit den Fingerspitzen, wie sie es bei den Arnaud-Kindern zu tun pflegte. Er ließ sich sogar die Fingernägel schneiden, die bereits verdreht und verwachsen waren wie Haken, wies sie aber mit einem ungehaltenen Knurren in die Schranken, als sie sich die Krallen an seinen Füßen vornehmen wollte.
    InwenigenWochenmachtensiegroßeFortschritte.Erließsichkämmen,herausputzenundsogarmitDuftwasserbetupfenundwarfürsieeinwillkommenerZeitvertreib,wiefüreinKinddiePuppe.Sielernte,ihmkeinschwarzesEssenvorzusetzen,weilereszurückwies,abergelegentlicheinenSchluckMezcalfürihnzuschmuggeln.SiebrachteseineStiefelaufHochglanz,stopfteihmdieSocken,putzteihmdiegroßengelbenZähnemiteinerkleinenBürsteundSoda.Siegingmitihmspazieren,erließsichwieeinHaushundanderKetteführen.
    Ihre Sitzungen zur Nahrungsaufnahme und Körperpflege wurden von Tag zu Tag ausgefeilter und ausführlicher. Was anfangs eine halbe Stunde, von sechs bis halb sieben in der Früh stattgefunden hatte, dehnte sich am Ende von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends. Altagracia kam, sobald es hell wurde und kehrte in der Abenddämmerung zum Haus der Familie Arnaud zurück. Wenn sie ging, blieb der an seinen Pfahl gefesselte Deutsche auf dem Bett sitzen, spielte gegen sich selbst Schach, brachte die Buchhaltung der Pacific Phosphate in Ordnung, schaute in die Sterne und wartete auf ihre Rückkehr am nächsten Morgen.
    Er nannte sie Alta oder Altita, und sie sagte Blonder zu ihm, Deutscher oder Gringo. Er mühte sich damit, ihr das Schachspiel beizubringen, sie wollte, dass er Spanisch sprechen lernte.
    »Spinner«, sagte er und zeigte auf eine Holzfigur.
    »Der Spinner bist du. Das heißt Springer.«
    »Du bist auch ein Spinner. So wird diese Figur nicht geschoben.«
    »Und wie kommt es, dass man dich vorher gar nicht verstehen konnte, und du jetzt auf einmal anfängst zu reden wie ein normaler Mensch?«
    »Weil ich jetzt Lust dazu habe und vorher nicht.«
    Das stimmte. Gustavo Schultz empfand zum ersten Mal seit seinem langen

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