Die Insel der Witwen
der Hunde in den Ohren. Sie rannte zurück. Stolperte. Stürzte. Konnte sich nicht abstützen. Ihr Gesicht schlug auf dem Meeresboden auf. Muscheln ritzten ihr die Wange ein. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut, das aus ihrer Wange tropfte. Sie blieb einfach liegen. Trotz der Kälte. Sie stellte sich vor, nicht mehr aufzustehen, einzuschlafen und sich vom Meer forttragen zu lassen. Spürte eine Eisflut in sich, fühlte sich wie eine Eisscholle, unter die sich die Flut schob. Die Eismasse wurde von der Welle emporgehoben, stürzte über Strand und Dünen, barst über ihrem Haus in zwei Teile und begrub ihre Kinder unter sich. Keike bäumte sich auf, riss sich hoch. Sie hob ihre Haube auf, stopfte die Zöpfe unter das schwarze Tuch und lief so schnell sie konnte nach Hause. Die Hunde waren nicht mehr zu sehen, auch der Pastor nicht.
H
Andreas Hartmann saß mit Kapitän Lorenzen und dem Pastor auf dem Wagen. Pastor Jensen hatte sich immer noch nicht beruhigt. Sein Gesicht war gerötet.
»Das ist unzumutbar, unzumutbar!«
Lorenzen verdrehte die Augen. »Mensch, Lukas, glaubst du, dass du die Menschen im Zorn erziehen kannst? Es gehört sich wirklich nicht, mit der Bibel zu knallen und mit den Füßen zu stampfen. Das ist nicht das erste Mal, dass dir das passiert.«
Jensen erhob den Zeigefinger. »Das wird böse enden, böse enden wird das mit den Frauen. Die Witwen sind am schlimmsten. Niemand zügelt sie. Die Männer fehlen. Man muss sie härter bestrafen.«
Er hörte nicht auf zu zetern. »Und ich, ich schinde mich ab und niemand dankt es mir. Man lässt mich kilometerweit weg von der Kirche wohnen. Ein Drittel meiner Einkünfte muss ich für Pferd und Wagen und den Knecht ausgeben …«
»Du kannst es dir leisten«, brummte Lorenzen.
»So gut wie du, Jacob, habe ich es gewiss nicht.«
Der Wagen hielt vor dem Pastorat.
»Sehen Sie sich dieses marode Haus an, Herr Hartmann. Nicht nur, dass der Schwamm in den Wänden sitzt, nein, man lässt mich in einem Pfarrhaus wohnen, das auf Pfosten von gestrandeten Schiffen steht. Bei starken Stürmen biegen sie sich in alle Himmelsrichtungen. Es schert niemanden, wie gefährlich es ist, hier zu wohnen.«
»Nu übertreib mal nicht.« Der Kapitän klopfte auf einen Balken. »Steht doch alles stramm, Lukas.«
»Sieh doch hin. Alles ist faulig, das Holz, die Balken, auch das Dach lässt zu wünschen übrig.«
»Ein neues Pastorat geht auf Kosten der Gemeinde. Wir haben das Geld dafür nicht. Alle werden sicher helfen, dein Haus zu reparieren, mehr ist nicht drin.«
»Die Gemeinde ist mir ein neues Haus schuldig. Das Pastorat ist eine Bruchbude. Reparaturen richten gar nichts aus. Hier kann und will ich nicht länger mit meiner Familie wohnen.«
Lorenzen errötete. »Bei Dienstantritt warst du mit dem Haus zufrieden und hast uns zugesagt, nichts weiter zu fordern.«
»Der Herr selbst gab mir ein Zeichen. Ich habe auch meiner Familie gegenüber eine Verantwortung. Eva mag in dem schwammigen Haus nicht mehr wohnen. Sie fürchtet um die Gesundheit der Kinder.«
Jensen hustete hart und trocken. »Entschuldigen Sie, Herr Hartmann, dass ich mich so aufrege. Meine Frau wartet sicher schon mit dem Essen.«
Frau Jensen hatte in der guten Stube gedeckt. Jensens hatten vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen. Die Mädchen waren Zwillinge, er schätzte sie auf zwölf Jahre. Sie saßen steif auf ihren Stühlen und gaben keinen Laut von sich. Andreas Hartmann dachte an seine Kinder. Er vermisste Jule und Hannes sehr. Gleichzeitig spürte er in der Stube des Pastors die gleiche Enge, der er zu Hause immer wieder entfloh. Der Geruch im Zimmer verstärkte seine Beklommenheit. Es roch ungelüftet, muffig, nach abgestandenem Schweiß und Blähungen, oder als würde hinter irgendeinem Balken eine tote Maus verwesen.
Frau Jensen, eine kleine, rundliche Frau trug das Essen auf. Weißkohl mit Hammelfleisch. Der älteste Sohn sprach das Tischgebet. Er leierte es herunter wie eine Litanei. »Wir danken dir, guter Gott, für die Speise, die hier für uns bereitsteht. Wie gut bist du, oh Vater im Himmel, dass du uns alles gibst, was wir bedürfen. Wie viel mehr gibst du uns als den armen Menschen, welche bitteren Hunger leiden. Lehre uns dafür dankbar zu sein, und etwas zu teilen von dem, was wir zu viel haben. Daran hast du gewiss Freude, oh Vater des Mitleidens, dass wir unseren Mitmenschen Gutes tun, gleich, wie du uns wohl tust und vergibst um deines Sohnes Christi
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