Die Insel des Mondes
nach Madagaskar zu reisen.
Sie verbrachte jeden Abend damit, an dem kostbaren Vanilleöl zu schnuppern, das sie von Europa mitgebracht hatte, und nur dieser sinnliche und warme Duft schenkte ihr das Vertrauen und die Kraft, am nächsten Morgen wieder aufzustehen und sich durch die Hitze des feuchten Dschungels weiter voranzuschleppen. Immer wieder bestürmten sie und ihre Reisegefährten Noria mit Fragen nach einem anderen Weg, einer Straße oder einem schiffbaren Fluss, aber Noria hatte nur den Kopf geschüttelt. Und Paula beschlich dabei der Eindruck, dass es Noria mit innerer Genugtuung erfüllte, sie alle so leiden zu sehen. Die einzige Alternative zu dieser Hölle wäre es gewesen, zurück nach Nosy Be zu reisen und von dort über das Nordende von Madagaskar zu segeln, um in den Nordosten zu kommen. Aber das hätte nicht nur noch viel länger gedauert, das war auch genau die Route der Piraten, die dort immer noch auf der Lauer lagen, obwohl es seit der Eröffnung des Suezkanals deutlich weniger zu holen gab. Und man erzählte sich, dass die Enttäuschung darüber ihre Grausamkeit nur noch erhöht hätte.
Die wenigen Pferde, die es auf Madagaskar gab, waren den hohen Offizieren der Königin vorbehalten, und die spärlichen robusten Ponys waren unbezahlbar. Sie mussten also wieder zu Fuß und mit Trägern weiterziehen. Die Königin war erstaunt über Paulas Entschluss gewesen, nicht in einem Tragstuhl zu reisen, und Paula hatte sich gehütet, ihr zu verraten, dass sie einfach nicht genug Geld für die vier Extra-Träger hatte, die zum Schleppen eines Palankins nötig waren. Schließlich galten sie ja als kaiserliche Gesandte. Das Erstaunen der Königin konnte sich Paula einzig damit erklä ren, dass Ranavalona II. noch nie das Hochland der Merina verlassen hatte, denn nach der Strecke, die sie schon hinter sich gebracht hatten, war Paula froh über ihre Entscheidung, weil es auf vielen Abschnitten ihres Weges unmöglich gewesen wäre, mit einem Tragstuhl vorwärtszukommen, und sie hätte die Träger bezahlen und trotzdem laufen müssen. Seit sie das Hochland verlassen hatten, konnte sie auch nicht mehr glauben, dass die Reisebeschreibungen von Ida Pfeiffer wirklich in allem der Wahrheit entsprachen.
Trotzdem war die Königin doch viel klüger, als sie alle das wahrhaben wollten, fand Paula. Sie war sicher, die Königin hatte nur deshalb darauf bestanden, dass sie mit den anderen Gesandten des Kaisers weiterreiste, damit Paula ein Auge auf ihre Gefährten hatte, denn sie hatte ihr vertraut, nicht den anderen. Nur so war es zu erklären, dass sie Paula einen Passierschein ausgestellt hatte, in dem die Namen der Männer aufgeführt waren, wodurch diese gezwungen waren, mit ihr zu reisen, Paula jedoch hätte jederzeit ohne sie weiterkom men können. Zu ihrem großen Erstaunen hatte sich keiner von ihnen darüber beklagt, und als sie die Männer dazu befragte, wuchs ihr Staunen noch weiter, denn es schien ihnen gut zu gefallen, mit ihr zu reisen, sogar Villeneuve, aber warum?
Doch von dieser Frage abgesehen war Paula sehr froh, dass sie nicht allein war. Die Männer packten ständig mit an, wenn es galt, Baumstämme aus dem Weg zu räumen, oder sie schleppten die schweren Lasten, wenn die Träger nicht mehr konnten. Sie hätten viel mehr Träger mitnehmen müssen, aber Morten hatte sich entschieden dagegen verwahrt. Er wolle das Geld seiner Mutterkirche nicht für solchen Luxus verschwenden. Außerdem besserten die Männer den Speisezettel mit kleinen Tieren auf, die sie jagten. Denn anders als Paula sich das vorgestellt hatte, wuchsen auf ihrem Weg durch den tropischen Regenwald nicht überall Früchte wie im Schlaraffenland, und wenn sie nicht auch noch Reis, Mehl, Eier, Hühner und Zucker dabeigehabt hätten, wären sie schon längst verhungert.
Die Träger waren stehen geblieben.
»Was ist?« Morten wischte sich den Schweiß von der Stirn und trank aus seiner Wasserflasche, die er, wie sie alle, an einem Ledergurt quer über der Brust trug.
O Gott, dachte Paula, hier ist alles zu Ende. Vor ihnen er hob sich der Regenwald so undurchdringlich wie eine Wand. Dünne graue Baumstämme mit Blattkronen, die man weit oben in mehr als zwanzig Metern Höhe nur erahnen konnte. Quer liegende, umgestürzte, von Termiten zerfressene Baumstämme, merkwürdige, wie Pfeifenputzer aussehende Büschelpflanzen mit roten Blüten, abgestorbene scharfkantige Palmblätter. All das wurde von Lianen umschlungen, die dick wie
Weitere Kostenlose Bücher