Die Insel des Mondes
ihren mühsamen Versuchen voranzukommen.
Die ungewohnte Last drückte auf Paulas Schulter, während sie bei jedem Schritt mit einer Hand den Riemen des Beutels festhalten und mit der anderen das Kind schützen musste.
Aber sie riss sich zusammen, so wie alle anderen, denn sie wurden von den rasant näher kommenden Gesängen angetrieben.
19
Um das Goldene Kalb tanzen
W ie konnte das nur passieren? Dieses Kind wird uns
allen den Tod bringen. Und keiner von uns gottverdammten Idioten war bereit, diese Tatsache auszusprechen, nein, wir alle tun so, als hätte sie richtig gehandelt. Wenigstens einer von uns hätte den Mumm haben müssen, mit ihr Tacheles zu reden. Stattdessen haben wir geschwiegen und müssen jetzt ohne unser Gepäck und ohne Träger weiterreisen.
Manchmal spüre ich den fast übermächtigen Wunsch, meine Hände um ihren Hals zu legen und fest zuzudrücken, nur um sie zum Schweigen zu bringen. Und all ihr Getue um Duft ist geradezu unerträglich. Es strengt mich zunehmend an, meine Fassade aufrechtzuerhalten, auch wenn mir Noria dabei sehr nützlich ist. Immer wieder muss ich mich daran erinnern, warum ich hier bin, muss ich daran denken, wie meine Mutter elend zugrunde gegangen ist, und mit ihr meine ganze Welt. Noria sagt, es dauert nicht mehr lange. Und wenn wir dann haben, was wir wollen, wird mich kein Gott der Welt dazu bringen, noch weiter Zeit mit Madame Kellermann zu verschwenden.
Ich würde dann auch nicht zögern, sie zurückzulassen. Aber bis dahin dürfen wir sie nie mehr aus den Augen verlieren, nicht einmal beim Pinkeln. Wer weiß, was sie beim nächsten Mal findet. Ich frage mich, wie sie auf die Idee gekommen ist, den Abhang hinunterzusteigen, hat diese Frau denn vor gar nichts Angst?
20
Lavendel
Lavandula vera D. C., das echte Lavendelöl ist farblos oder schwach gelblich gefärbt, dünnflüssig, von sehr starkem, besonders bei genügender Verdünnung ungemein lieblichem Lavendelgeruch und von scharfem, aromatisch bitterem Geschmack.
P aula stolperte hinter Villeneuve her, der mittlerweile
mit Morten zusammen Noria und Lázló dabei unterstützte, einen Weg durch das Dickicht zu schlagen. Sie war völlig durchnässt, vom Schwitzen, vom Regen, und ihre Kleider klebten an ihr wie eine zweite, scheuernde Haut. Und obwohl sie von oben bis unten nass war, musste sie doch ständig einen Schluck Wasser aus ihrer Flasche trinken, weil sie das Gefühl hatte auszutrocknen.
Das Kind drückte auf ihre Brust wie ein Sack Mehl. Ständig verlor sie das Gleichgewicht, weil sie mit einer Hand den Beutel über ihrer Schulter festhalten musste, der trotzdem noch hin und her wackelte, während sie mit der an deren Hand den Jungen vor den scharfen Kanten der Palmblätter und Dornenranken schützen musste. Sie brauchte eine Pause, zum Ausruhen, zum Atmen, zum Umpacken.
Aber es würde in absehbarer Zeit keine Pause geben, denn sie hörten nach wie vor deutlich die Gesänge ihrer Verfolger, die jetzt auch nicht mehr fröhlich, sondern wie eine Kampfansage klangen. Die zwitschernden Flöten waren monotonen Trommelschlägen gewichen. Wie lange konnten sie das noch durchhalten?
»Das ist alles Unsinn, was wir hier machen!« Paula schnaufte beim Sprechen, die feuchte Hitze stahl ihr den Atem, sodass nie genug von der klebrigen Luft in ihrer Lunge landete. »Wartet, hört mir einen Moment zu.«
Morten, Noria und Lázló drehten sich widerwillig um und blieben stehen.
»Nein, keine Zeit, wir müssen weiter!«, befahl Villeneuve und setzte seinen Weg stur fort. »Gottesurteile überlebt keiner.«
»Aber wenn wir so weitermachen, dann kriegen sie uns.
Wir hinterlassen eine Spur, deutlich wie die Kavallerie, und wir sind viel zu langsam.« Paula keuchte mehr, als sie redete, aber sie wollte die anderen zur Räson bringen.
Villeneuve blieb stehen und kam ein paar Schritte zu ihr zurück. »Dieses zermürbende Gejammer ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Wir müssen nach vorn schauen.« Und dann seufzte er herablassend. »Sind Sie zu krank, oder geht es einfach nur darum, dass ich Ihnen Gepäck abnehme?«
Das war zwar angesichts dessen, was er bereits schleppte, ein großzügiges Angebot, aber sein Ton gab Paula den Rest. Ihr Puls raste noch schneller.
»Nein, jetzt überlegen Sie doch mal. Wir können doch nicht ewig weglaufen, nicht mit all dem Gepäck. Wir müssen sie anders ausschalten, das stimmt doch, oder, Noria?«
Noria musterte einen nach dem anderen, dann nickte sie. »Es hört
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