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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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sie damals häufig gab, denn die Seefahrer zeichneten von einem neu entdeckten Land die Küsten ein, die sie gesehen hatten, ließen aber die Umrisse unvollständig, da sie nie wussten, wie weit und wohin sich das Land erstreckte; darum erschienen die Karten des Stillen Ozeans oft wie Arabesken von Stränden, Andeutungen von Umrissen und Vermutungen über Volumen, und exakt eingezeichnet waren nur die wenigen Inseln, die man umsegelt hatte, sowie die Richtung der Winde, die man aus Erfahrung kannte. Manche zeichneten, um eine Insel wiedererkennbar zu machen, nur ein möglichst genaues Bild der Berggipfel und der Wolken darüber, so dass man sie identifizieren konnte, wie man von weitem eine Person an der Form ihres Hutes oder an ihrer Gangart erkennt.
    Auf jener Karte nun waren die Umrisse zweier gegenüberliegender Küsten zu sehen, zwischen denen eine Meerenge innordsüdlicher Richtung verlief, und eine dieser beiden Küsten fügte sich mit verschiedenen Aus- und Einbuchtungen annähernd zu einer Insel, und das konnte seine Insel sein; doch in anderen Zonen des Meeres gab es noch andere Gruppen von mutmaßlichen Inseln mit recht ähnlichen Formen, die gleichermaßen den Ort darstellen konnten, wo er sich befand.
    Wir würden uns täuschen, wenn wir meinten, Roberto sei plötzlich von der Neugier des Geographen erfasst worden. Zu gründlich hatte ihn Pater Emanuele gelehrt, das Sichtbare durch die Linse seines Aristotelischen Fernrohrs zu verzerren. Zu nachhaltig hatte ihm Saint-Savin beigebracht, das Verlangen durch die Sprache zu schüren, die ein Mädchen in einen Schwan verwandelt und einen Schwan in ein Weib, die Sonne in einen Kochtopf und einen Kochtopf in die Sonne! Spätnachts finden wir Roberto über der Karte träumend, die er in den begehrten weiblichen Körper verwandelt hat.
    Wenn es ein Fehler der Liebenden ist, den Namen der geliebten Person am Strand in den Sand zu schreiben, wo ihn alsbald die Wellen verschlingen, wie klug musste er sich als ein Liebender fühlen, der den geliebten Körper in den Rundungen der Buchten und Busen erblickte, das Haar im Fluten der Strömungen durch die Mäander der Archipele, den leichten sommerlichen Schweiß des Gesichts im Schimmern des Wassers, das Geheimnis der Augen im Blau einer weiten Leere – so dass ihm die Karte die Formen des geliebten Körpers mehrfach zeigte, in verschiedenen Abfolgen von Buchten und Vorgebirgen. Begehrlich fuhr er mit dem Mund über die Karte, als triebe er schiffbrüchig auf einer Planke, sog jenen Ozean von Wollust ein, kitzelte da einen Nacken, wagte nicht, dort in eine Enge einzudringen, atmete mit der Kehle auf dem Blatt den Atem der Winde, hätte die Wasseradern und Quellen ausschlürfen mögen, hätte sich gierig darauf verlegen wollen, die Mündungsdeltas der großen Flüsse auszutrocknen, Sonne zu werden, um die Ufer zu küssen, Gezeitenspiel, um das Arkanum der Schlünde zu umschmeicheln ...
    Aber nicht den Besitz genoss er, sondern den Entzug: Während er wähnte, jene vage Trophäe mit gelehrtem Pinsel zu ertasten, waren vielleicht schon andere dabei, auf derWahren Insel – dort, wo sie sich in lieblichen Formen erstreckte, die von der Karte noch nicht erfasst worden waren – ihre Früchte zu kosten, sich in ihren Gewässern zu tummeln ... Andere, verblüffte und geile Riesen, legten vielleicht in diesem Augenblick ihre groben Hände auf jene zarte Brust, ungeschlachte Vulkane nahmen jene zerbrechliche Aphrodite in Besitz, berührten ihre Lippen mit der gleichen Blödheit, mit welcher der Fischer der Nichtgefundenen Insel, jenseits des letzten Horizonts der Kanarien, nichtsahnend die seltenste aller Perlen ins Meer wirft ...
    Sie in anderen liebenden Händen ... Dieser Gedanke war der höchste Rausch, in dem Roberto sich wand, winselnd über seine stechende Ohnmacht. Und in seiner Raserei auf dem Tisch umhertastend, wie um wenigstens einen Rockzipfel zu erhaschen, glitt sein Blick von der Darstellung jenes sanft gewellten Pazifischen Leibes zu einer anderen Karte, auf welcher der unbekannte Autor vielleicht versucht hatte, die feuerhaltigen Gänge und Schlote der Vulkane des westlichen Landstriches darzustellen: Es war eine Karte unserer ganzen Erdkugel, rings umgeben von helmbuschförmigen Rauchsäulen auf den Gipfeln der Auswüchse aus der Kruste und im Innern ein Gewirr von dürren Adern; und von dieser Erdkugel fühlte Roberto sich auf einmal als das lebende Abbild, röchelnd spie er Lava aus jeder Pore, stieß die

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