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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Unterschreibt, siegelt und lasst es ihr bringen. Dann wartet.«
    »Worauf denn?«
    »Der Norden auf dem Kompass der Klugheit besteht darin, die Segel im Wind des günstigsten Augenblickes zu setzen. Bei diesen Dingen kann Warten nie schaden. Anwesenheit vermindert das Ansehen, und Fernsein vergrößert es. Solange Ihr in der Ferne seid, wird man Euch für einen Löwen halten, und wenn ihr anwesend seid, könntet Ihr leicht die Maus werden, die der berühmte kreißende Berg gebiert. Gewiss seid Ihr reich an vorzüglichen Eigenschaften, aber auch die vorzüglichsten Eigenschaften verlieren an Glanz, wenn sie zu oft berührt werden, während die Phantasie in weitere Fernen reicht als der Blick.«
     
    Roberto bedankte sich bei Saint-Savin und eilte nach Hause, den Brief im Wams verborgen, als hätte er ihn gestohlen. Als hätte er Angst, dass ihm jemand die Frucht seines Diebstahls rauben könnte.
    Ich werde sie finden, sagte er sich, ich werde mich verbeugen und ihr den Brief überreichen. Dann wälzte er sich im Bett hin und her bei dem Gedanken, wie sie ihn mit den Lippen lesen würde. Er stellte sich Anna Maria Francesca Novarese inzwischen mit all jenen Tugenden ausgestattet vor, die Saint-Savin ihr zugeschrieben hatte. Indem er ihr seine Liebe erklärte, sei's auch mit der Stimme eines anderen, hatte er sich noch verliebter gefühlt. Was er widerwillig begonnen hatte, erfüllte ihn nun mit Seligkeit. Er liebte das Mädchen jetzt mit der gleichen exquisiten Heftigkeit, die der Brief zum Ausdruck brachte.
     
    Auf der Suche nach jener, der fernzubleiben er so geneigt war, ungeachtet der Kanonenschüsse, die ab und zu auf die Stadt niedergingen, entdeckte er sie ein paar Tage später an einer Straßenecke, beladen mit Ähren wie eine mythische Gestalt. Mit großem innerem Aufruhr stürzte er ihr entgegen, ohne recht zu wissen, was er tun oder sagen würde.
    Zitternd bei ihr angelangt, trat er vor sie hin und sagte: »Gnädiges Fräulein ...«
    »Meint's mi?«, antwortete sie auflachend, und: »Ja bitt' schön?«
    »Bitte schön«, wusste er nur zu sagen, »könntet Ihr mir vielleicht den Weg zeigen, auf dem man zum Kastell gelangt?« Darauf das Mädchen, mit dem Kopf und der großen Haarmasse nach hinten deutend: »Na, da lang, oder?«
    Und während Roberto noch zögerte, ob er ihr nachgehen sollte, schlug pfeifend genau an der Ecke, hinter der sie verschwunden war, eine Kugel ein, die ein Gartenmäuerchen niederlegte und eine Staubwolke aufwirbelte. Roberto hustete, wartete, bis der Staub sich verzogen hatte, und begriff, dass er, da er allzu zögernd durch die weiten Räume der Zeit gegangen war, den Mittelpunkt der Gelegenheit verpasst hatte.
    Um sich zu bestrafen, zerriss er den Brief mit Bedauern und machte sich auf den Heimweg, während die Fetzen seines Herzens sich auf dem Boden knüllten.
    Seine erste undeutliche Liebe hatte ihn für immer davon überzeugt, dass das Objekt der Liebe seinen Platz in der Ferne hat, und ich glaube, das hat sein weiteres Schicksal alsLiebender bestimmt. In den folgenden Tagen war er an jede Ecke und in jeden Winkel zurückgekehrt, überallhin, wo er eine Auskunft bekommen, eine Spur erraten, etwas über sie gehört oder sie gesehen hatte, um sich eine Landschaft der Erinnerung zusammenzusetzen. So hatte er sich ein Casale seiner Leidenschaft gezeichnet, hatte Gassen, Brunnen, Plätze in den Fluss der Neigung, den See der Gleichgültigkeit oder das Meer der Feindschaft verwandelt; und hatte aus der verletzten Stadt das Land seiner Ungestillten Sehnsucht gemacht, die Insel (schon damals, ahnungsvoll) seiner Einsamkeit.

 
    13
    DIE KARTE DER ZÄRTLICHKEIT
     
    I n der Nacht zum 29. Juni weckte die Belagerten ein großes Krachen, gefolgt von Trommelwirbeln: Die erste Mine, die die Belagerer unter die Mauern geschafft hatten, war explodiert, hatte eine Halbmond-Schanze in die Luft gejagt und fünfundzwanzig Soldaten begraben. Am nächsten Tag gegen sechs Uhr abends hörte man im Westen ein fernes Donnern, und im Osten erschien ein Füllhorn, weißer als der übrige Himmel und mit einer Spitze, die abwechselnd länger und kürzer wurde. Es war ein Komet, der die Soldaten erschreckte und die Städter veranlasste, sich in ihren Häusern einzuschließen. In den nächsten Wochen flogen noch weitere Schanzen in die Luft, während die Belagerten von den Mauern hinab ins Leere schossen, da die Belagerer sich inzwischen unter der Erde bewegten und es nicht gelang, sie durch Gegenminen daran

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