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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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der Kriwaja in einem der Räume einer vollkommen demolierten Baracke gebaut haben, wie Aaskäfer im Leib eines Tierkadavers. Vor drei Jahren wohnten hier noch Menschen. An der Kriwaja, wo Trevor-Battye erstmals seinen Fuß auf die Insel setzte, hatten Geologen eine Sägemühle errichtet, nachdem das Innere der Insel, von unterirdischen Sprengungen zuoberst gekehrt, sein verborgen unter Torf und Lehm schlummerndes Erdöl preisgegeben hatte. Das für die Bauarbeiten benötigte Holz ließ sich leicht von der Koschka heranschaffen und zu Brettern zersägen. Es herrschte Hochbetrieb: Hubschrauber schafften die Schichtablösungen herbei; heißen, dickflüssigen Kraftstoff verschlingend, ließen dröhnende Dieselmotoren den Strom in den Leitungen pulsieren; wie Zahnräder eines gigantischen Uhrwerks zermahlten riesige lotrechte Sägeblätter fleißig die in den Stämmen eingeschlossene Zeit …
    Wann genau und warum dies alles nicht mehr gebraucht wurde, weiß ich nicht. Als wir ankamen, schaute ich mich lange um, stumpf und fassungslos. Ich sah Berge von Sägemehl, Dünen von Sägemehl, sah hingekippte Stapel von Brettern, auseinanderrutschende Haufen von Stämmen, die erstarrten schwarzen Mandibeln der Sägen, sah zusammengebackenen, sich verklumpenden Schrott, der allmählich wieder in rötliches Sumpferz überging: Traktoren, zentnerschwere Zahnräder, Kettenglieder und Kolben und im Wind klappernde Garagenwandungen, sah Überreste zusammengestürzter Baulichkeiten, sah verrostende leere Treibstofftanks, überall umherliegende Mechanikteile, Fräsen, Schleifsteine …
    Dann: die herausgerissenen Dielenbretter, die mit Wasser vollgesogene, herunterkommende Decke, das aus den Wänden rieselnde feuchte Sägemehl, das unter den Schritten knirschende Fensterglas … Unsere Zuflucht. Wir richteten uns in dem einzigen Raum ein, dessen Boden noch erhalten war. Wie bei unserem ersten Nachtquartier verschlossen wir zuallererst die Fensteröffnungen, nicht mit Glas, versteht sich, sondern mit Zellophan und einem Stück »Burukrytie«, jener dicken Spezialplane aus gummiertem Stoff, mit der im Hohen Norden die Wohncontainer ummantelt werden. Dann fegten wir einen ganzen Berg Medikamente ins Freie. Zwischen verknäulten gelben Binden, entzweigegangenen Ampullen, zerbrochenen Jodfläschchen und vor Feuchtigkeit aufgequollenen Tabletten entdeckten wir zufällig eine Tube der begehrten Schlangengiftsalbe, ich rieb mir damit das Knie ein, das völlig unerwartet heftig zu schmerzen begonnen hatte. In der Küche stießen wir auf einen noch tauglichen Teekessel und eine Brotform …
    Vom Flur her Geräusche. Über unseren Köpfen bewegt sich im Luftzug ein Stück abgerissener Dachpappe, die Rahmen der eingeschlagenen Fenster knarren; plötzlich auf dem Boden ein Flattern und Rascheln wie von angeschossenen Vögeln – die Seiten zurückgelassener Bücher. Die offenstehende Tür des Abtritts ist bepinselt mit belehrenden Appellen: »Genosse! Justiere deinen Arsch genau! Ziele sauber ins Loch!«, und dazu die befremdlichen Schöpfungen eines entweder getrübten oder schönheitsunempfindlichen Geistes: ein wozu auch immer an einem zwei Meter langen dicken Draht baumelnder Schraubenschlüssel, ein riesiger, eggeähnlicher Eisenrechen, ein mit einem halben Dutzend langer Nägel gespickter Schuh … Nägel, die aus den Wänden ragen, und Nägel, die aus dem Boden ragen …
    Wozu diente das alles? Was ist hier vor sich gegangen? Der Gedanke, dass wir diesmal nach dem Ende der Welt auf die Erde geraten sind, drängt sich einem augenblicklich auf, zusammen mit dem Verdacht, dass in diesen Ruinen, zwischen diesem Getön und Geraschel, noch jemand außer uns zugegen sei, jemand, der davon berichten könnte, was hier geschehen ist. Denn die Horrorindustrie bringt einen natürlich auf den Gedanken, hier könne etwas vor sich gegangen sein, was das Blut in den Adern wirklich gefrieren ließe; vielleicht ist die kleine Küstensiedlung ja Opfer irgendeiner Höllenkreatur geworden, die sich in den Menschen eingenistet hat wie ein Virus von rasender, sinnloser Zerstörungskraft?
    Ich wollte diesen Ort fotografieren – und konnte es nicht. Die Ruinen des Hohen Nordens sind wahrlich geronnener Irrsinn. Sie lassen sich nicht poetisieren. Ich fühlte mich, als sei ich ins Reich des Bösen geraten, an einen vorzeiten von den Menschen wie den Göttern verlassenen Ort. Vielleicht nach einer Schlacht, die sich die letzten Helden und letzten Götter hier an der

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