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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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in diesem Moment geschah mit Trevor-Battye etwas wie eine Verwandlung. Zumindest hörte er auf, ein zivilisierter Europäer vom Ende des 19. Jahrhunderts zu sein und glitt, wie in ein tiefes Gewässer, in eine Hellsichtigkeit, über die gewiss seine keltischen Urahnen verfügten: »Ich schloss die Augen und überlegte. Nach einer Weile konnte ich den Tschum an seinem Standplatz
sehen
, und zwar so deutlich, dass ich wusste, in welche Richtung wir laufen mussten … beinah entgegengesetzt zu der, die wir vermutet hatten.«
    Und tatsächlich: Um halb vier Uhr in der Früh langen sie zielsicher beim Lagerplatz an.
    Den ersten Nenzen, auf den sie stoßen, begrüßt Trevor-Battye mit einem auswendig gelernten russischen Satz: » ›Wie geht es Ihnen‹, sagte ich, den Eingangsvorhang zum Tschum zurückschlagend, in meinem schlechten Russisch. ›Wie geht es Ihnen‹, kam in einem noch schlechteren Russisch aus einem Stapel von Fellen zurück.«
    Hier muss ich einen Schnitt machen, Sir, muss mit dem Zitieren auf hören und alle neugierig Gewordenen auf Ihr Buch selbst verweisen. Hinzugefügt sei noch, dass Ihre Arbeiten nicht in Vergessenheit geraten sind. Weniger, weil Ihr Buch in die riesige Bibliothek des »Tempels« Eingang fand, sondern weil es in den dort schwer wie Sedimentgesteinsschichten lagernden bedruckten Seiten nicht verschüttet wurde. Im Abstand von Jahren kommt von irgendwoher eine Bestellung, und
Ice-Bound on Kolguev
wird aus dem Archivdunkel hervorgeholt ans Tageslicht und lebt, von einem Menschen gelesen, wieder auf. Wer sich mit Kolgujew befasst, kommt um Ihr Buch nicht herum. Auch ich habe es gelesen: damit ich in dem, was ich in der Gegenwart beobachte, die aufgegangenen Keime der Vergangenheit erkennen kann – jener Vergangenheit, deren Zeuge Sie waren –, um so die Kontinuität der Insel in der Zeit fortzuschreiben. Und es ist gut möglich, dass Sie und ich zwar zu unterschiedlicher Zeit und in unterschiedlichen Sprachen schreiben, aber doch an ein und demselben Buch: dem Buch von Kolgujew. Sollte dies so sein, müssen wir möglicherweise auf unsere Autorschaft verzichten oder alle, die je über die Insel geschrieben haben, als Koautoren hinzuziehen. Dann müssen in dieses Buch nicht nur die Beschreibungen von Saweljew und Maximow aufgenommen werden sowie die Bücher und Bilder von Ada Rybatschuk und Wladimir Melnitschenko, sondern auch die knappen Notizen von Admiral Lütke, der 1824 an Kolgujew vorbeisegelte, und der Bericht des Untersteuermanns Bereschnych aus dem Jahre 1826 sowie überhaupt jede noch so flüchtige Erwähnung der Insel in den Logbüchern der Kapitäne des 16. Jahrhunderts oder in den Wetterberichten und Befehlen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, kurz: alles, was auf die eine oder andere Weise in den großartigen Archiven der Menschheit im Dossier der Insel abgelegt ist. Wir werden Zeugen werden, wie unser Buch anwächst zu kolossalen Ausmaßen, werden ein ungeheuerliches, sich selbst hervorbringendes Werk erblicken, das sich wie ein Labyrinth verzweigt, und wer hier auf der Insel in dieses Labyrinth gerät, kann sich schlicht in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wiederfinden, wo ein Gespräch über Don Quijote von der Mancha völlig angebracht ist oder eines über die Ankerplätze des Nazi-Kreuzers
Admiral Scheer
in der Barentssee, über den russischen Raskol, über die britische Falconry und generell
über jedes beliebige Thema
– was das Erstaunlichste von allem ist, Sir.
    Aber das ist natürlich schon ein Problem unserer Zeit. Kein Zweifel: das Bild der Kultur als einer gigantischen, alle Bücher, die es gab, gibt und geben wird, enthaltenden Bibliothek (Borges) belastete Sie noch nicht, Sie mussten sich noch nicht den Kopf zerbrechen, ob es sich lohnt, in dieser Welt die Worte zu vermehren, da sie doch so rasch Sinn und Größe von einst verlieren und keinen mehr anzurühren oder zu überzeugen vermögen. Wie glücklich der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts! Er sah sich mit Fug und Recht als Motor des Fortschritts, und dieser naive Glaube rettete ihn. Und wahrhaftig, vieles, wovon Sie schreiben, Sir, ist von unschätzbarem Wert, womöglich gerade das, was Sie seinerzeit als nebensächlich betrachteten.
    Zum Beispiel jene Fingerringe aus weißem Metall, welche die Nenzinnen in alten Zeiten trugen: Einer dieser Ringe taucht am Ende unserer Erzählung auf, wo er seinen Reflex auf das Gesicht einer unglücklichen Verrückten wirft, was erlauben wird, in ihren

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