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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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entstellten Zügen die Spuren einstiger Schönheit und menschlicher Vollkommenheit zu entdecken. Oder die Kupferketten, welche die nenzischen Mädchen sich um die Stirn schlangen, mit den Zöpfen verflochten und dann auf dem Rücken herabfallen ließen bis zur Taille: Genau so schmückt der Künstler Filipp Ardejew seine Puppen, zum Unverständnis derer, die meinen, Ketten müssten um den Hals und vor der Brust getragen werden. Oder die beiden Teetassen von einem norwegischen Schoner, der vor Kolgujew Schiffbruch erlitten hatte: Sie werden zu einer Erzählung von einem alten Gewehr (nicht Ihrem kleinen Klappgewehr, Sir, sondern von einer echt mörderischen norwegischen Flinte) überleiten, mit dessen Fund wir – was meinen Sie: worauf stoßen? Auf Ihr Fernrohr, Sir. Es hat lange dem Enkel jenes Mannes gute Dienste erwiesen, der Sie mit seinem erhabenen Aussehen beeindruckte: »… ein schöner alter Mann mit langem grauem Haar, der ganz dem Moses auf Kirchenfenstern glich.« Erst vor kurzem hat es einen Okularring eingebüßt, so dass es untauglich geworden ist – aber es existiert nach wie vor. Freilich würde die Geschichte, wie Ihr Fernrohr von der Insel aufs Festland – nach Narjan-Mar – gelangte, eine gesonderte Erzählung verlangen. Aber es sei nur soviel gesagt – und ich nehme an, das wird Sie schon nicht mehr erstaunen –: Iwan, der Besitzer des Tschums, auf den Sie stießen und bei dem Sie drei Monate lang lebten, ist der Ururgroßvater unserer Trekkingführer Alik und Tolik.
    Die beiden kennen Ihr Buch nicht, aber ich werde nie vergessen, wie wir mit dem »alten« Ardejew, Grigori Iwanowitsch, dem Vater der beiden, beim Tee in der Hotelküche von Bugrino saßen und er, eine Zigarette schmauchend, sich mit Vergnügen an näher oder ferner Liegendes erinnerte – immer so, als sei er selber dabeigewesen –, und plötzlich sagt er:
    »Und dann lebten Engländer in unserem Tschum …«
    Ich spitzte die Ohren, denn ich begriff sofort, dass an diesem Ort von niemand anderem die Rede sein konnte als von Ihnen. Die Äußerung widersprach dem, was ich schon wusste, nicht: Iwan, der den Beinamen Purpej, »der Rostschopf«, trug, besaß am Unterlauf der Pestschanka Weideplätze – also dort, wo Sie nach eigener Bekundung Ihre Rettung fanden. Aber ich wollte meine Vermutung durch klare Aussagen bestätigt wissen.
    Ich fragte, wie viele Engländer es, also Sie, waren.
    »Zwei.«
    »Und hatten sie einen Hund dabei?«
    Ehrlich gesagt, ich erwartete nicht, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, Sir, aber in der Tundra werden wenig Bücher gelesen, weshalb die Menschen ein gutes Gedächtnis besitzen, und was vor einhundert Jahren passiert ist, daran erinnert man sich so gut, als sei es gestern gewesen.
    »Ja.«
    Vielleicht, Sir, jagt Ihr geliebter Spaniel Sailor in seinem Hundeparadies ja Enten Seite an Seite mit Iwan Purpejs »wolfsartigen Hunden« Niarrwej, Chwilka, Pasko, Mandaluk und Serko.
    Hätten Sie gedacht, Sir, dass sich auf Kolgujew Menschen, die Ihr Buch nicht gelesen haben und es nicht einmal kennen, sich Ihrer und Ihres Hundes erinnern? Wir haben eine Kultur erschaffen, deren Symbole das Spiegellabyrinth und die babylonische Bibliothek sind, das unendliche und ausweglose Spiel der Spiegelung: die Gefangenschaft in der über Jahrtausende aufgehäuften Zeit. Das lebendige menschliche Gedächtnis aber strömt frei aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Und wenn man sich Ihrer erinnert, Sir, liegt darin eine tiefe Anerkennung …
    Trevor-Battye, seinerseits auf vertrackte Weise ein Gefangener jenes wüsten Erdenflecks Kolgujew und der Menschen, die zu seinen Rettern wurden, hat der englischen Originalausgabe von
Ice-Bound on Kolguev
ein (in der russischen Übersetzung fehlendes) Widmungsgedicht vorangestellt, eine der Zeit entsprechende, leicht sentimentale Liebeserklärung. 29 Von den Nenzen spricht er mit unverhohlener und leicht nachvollziehbarer Sympathie – was nicht weiter auffiele, widerspräche er damit nicht den Urteilen der zeitgenössischen wissenschaftlichen Autoritäten: »Warum platziert Nordenskjöld«, schreibt er, »diese Samojeden auf der niedrigsten Stufe der arktisch-mongolischen Gruppe
ganz unten
? Und warum fällt Carlyle mit Verweis auf einen Fall verzweifelter Barbarei über die armen Samojeden her?« Und dann, Sir, äußern Sie etwas für die Selbstzufriedenheit der weißen Rasse nahezu Lästerliches, Unannehmbares – nämlich, dass Sie auf Kolgujew wiederholt empfunden

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