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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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heiligen Lebens unversehrt zu retten, dieses vom Menschen bereits erfahrene und von Gott gesegnete Bild.«
    Das Erstaunliche ist, dass der aus dem Widerstreit zweier Moskauer theologischer Kreise wegen einer bei den Textkorrekturen aufgekommenen unterschiedlichen Lesart und einiger heute kaum mehr verständlicher Änderungen im gottesdienstlichen Ritus entstandene Raskol – dieses Schisma wegen eines »Irrtums«, wie Rosanow schreibt, wegen einer philologisch banalen Frage hinsichtlich des zweiten »Jota« bei der Schreibung des Namens Jesu (»Iisus« statt »Isus«, auf dem die Altgläubigen bestanden) –, dass dieser Raskol zum größten Aufschwung des Volkes wurde, »bedeutender als die Reformation«, weil er die Frage nach dem
Sinn
des Glaubens und damit im Grunde nach dem Sinn des Lebens ins Zentrum rückte: Wozu verflachen wir den Glauben mit eitlen weltlichen und Reichsdingen, weshalb leben wir nicht einfach so,
wie wir sollten
?
    In den frühen Tagen der russischen Kirche kam diese Frage nicht auf und konnte sie auch nicht auf kommen. Denn die großen Asketen – der heilige Sergej von Radonesch, die ehrwürdigen Sossima und Sawwati (die in der
Wüste
des Weißen Meeres das Solowezki-Kloster gründeten) sowie der ihnen im Geist zutiefst verwandte ehrwürdige Antoni Sijski, der die Pfade zur heiligen Frömmigkeit »zwischen Sümpfen und Tundren« beschritt – lebten Tag für Tag ihr Leben als Männer der Kirche, zu einer Zeit, da die Kirche selbst Heiligkeit und Licht war in der Finsternis von Tatarenherrschaft, innerer Zwietracht oder Smuta 30 .
    Als im 17. Jahrhundert dann das erstarkte Moskauer Reich immer mehr der
Dienste
der Kirche bedurfte und sie ins aktive politische und weltliche Leben zog, da kam es zur Spaltung, zu jenem Unterschied im Bekenntnis, der, was auch immer geschah, die beiden Ströme des doch
einen
Glaubens, die sich im Lauf der russisch-orthodoxen Geschichte gegabelt hatten, nicht wieder zusammenfließen ließ. Denn verschieden ist die Richtung der seelischen Bewegung selbst, ihr Streben und Trachten geht nach unterschiedlichen Seiten. Rosanow hat bemerkt, dass die Idee einer »Versöhnung« mittels Klärung bestimmter theoretischer Differenzen den Raskolniki zutiefst fremd sein musste. »… Sie wollen nicht erwägen und erörtern – sie wollen den ›Schtschepotnik‹ 31 weniger überzeugen als vielmehr beleidigen, der seine ›Beweise‹ so trefflich entwickelt, während er doch dem heiligen Alexius oder dem Petrus, Johannes und all den anderen … so
gar nicht ähnlich
ist und sie mit seiner
Art
als solcher beleidigt und sie erzürnt mit den Urteilsmethoden seines sündigen und schwachen Verstandes, mit dem er sich über die Gerechten zu erheben glaubt …«
    In den berühmten »Pomorischen Antworten« von 1723, verfasst von den Leitern des Altgläubigen-Klosters am Wyg, Andrej und Semjon Denissow, und bestimmt für den Mönchspriester Neofit, den Peter der Große und der Heilige Synod zur Vermahnung der »Altritualisten« in den Norden geschickt hatten, zeigt sich der Widerstandsgeist gegen diese dem Machtgedanken verschriebene,
staatsgewaltliche
Autorität, mit der die Kirche sich ausgestattet hatte. »Der rechte Glaube bestehet nicht in Mauern.« Die Eremiten hatten sich auf ein Gespräch eingerichtet, aber auf eines über das Wesen des Glaubens und mit einem
Bruder
im Geiste, nicht mit einem unduldsamen Emissär, der, begleitet von einem Offizier, abgeordnet war, sie penibelst zu verhören. Sie sahen die Staatskirche nicht als Gegnerin, dennoch erinnern sie nicht zufällig an die Worte des heiligen Johannes Chrysostomos: »Die Kirche ist uns nicht nur Mauern und Dach, sondern Glaube und Leben.« Nicht dort ist Christus, wo das symbolische kirchliche Abendmahl mit Brot und Wein gefeiert wird, sondern »allenthalben«, wo durch Tat und Gedanke der Mensch Christi teilhaftig wird … So wie in den Jahrhunderten der Verfolgung die heiligen Asketen »Gotteshäuser sich selbsten durch gut Werke geschaffen«, sagen die Brüder Denissow, um ihr Einsiedlertum zu erklären, so vermögen zu jeder Zeit, da der Glaube geschwächt ist, »Kirche und rechter Glaube auch ohne Geistlichkeit und sichtbar Kirche seyn …«
    Schon diese Auswahl von Zitaten verdeutlicht, woher das Altgläubigen-Kreuz auf Kolgujew stammt. Mit ihrem mystischen Verständnis des Glaubens und ihrer gleichgültigen, wenn nicht feindseligen Haltung gegenüber der synodalen Rechtgläubigkeit, die sich in den historischen

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