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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Prozess des sich herausbildenden russischen Staates hatte hineinziehen lassen, stellen die Raskolniki in unserer Geschichte eine Art Gegenstrom dar, der im Grunde auf eine außerhistorische Zeit zielt – und damit auf einen aus diesen oder jenen Gründen den Männern des Staates nicht zugänglichen Raum … Und wenn der Vater des Raskol, der Protopope Awwakum gewaltsam nach Pustosjorsk an die Petschora verbracht und nach Jahren der Kerkerhaft zuletzt an diesem wüsten, wilden Flecken Erde ohne unliebsame Zeugen hingerichtet wurde, so gingen später seine geistigen Kinder, die Altgläubigen, freiwillig in diesen Landstrich, wo der Wind die Gebeine aus den Gräbern wühlt, ja in noch rauere und abgelegenere Gegenden. Und je mehr Moskau heranwuchs, je klangvoller das Geläut der Glocken die Stadt durchflutete und je majestätischer das Antlitz des jungen Petersburg erstrahlte, mit dem sich für Russland doch der Eintritt in die westeuropäische Geschichte auftat, desto weiter gingen sie fort. Fort von der Geschichte, fort von den ruhmreichen russischen Waffen, fort von den verwegenen, prunkvollen Kirchenbauten, deren Pracht und Herrlichkeit glänzende wissbegierige Geister, Männer, die von der phantasiesprühenden Leichtigkeit des Barock ebenso fasziniert waren wie von der Geometrie des besonnenen Freimaurertums, dem Stein abgetrotzt hatten …
    Die Raskolniki lebten ihre eigene, parallele Geschichte, für die sich kein Historiograph fand: Sie besiedelten das Pomorje, jenes riesige Gebiet zwischen der Weißmeerküste und dem Onegasee, und kolonisierten weite Territorien jenseits des Ural und in Sibirien. Der Staat folgte in ihrer Spur, holte sie unabänderlich jedes Mal ein, sie in seine Geschichte hineinziehend, sie aus der Bewegungslosigkeit der biblischen Zeit, aus der Abspaltung herausführend. So, mit dem allmählichen Wechsel der »Altritualisten« aus der mythologischen in die historische, die weltliche Zeit, hat diese seit dem 17. Jahrhundert klaffende Wunde Russlands bereits vor der Revolution ihren grellen Schmerz verloren: die Altgläubigen leben fort, sie existieren auf dem Erdenrund.
    Von einigen wenigen abgesehen, die den letzten Schritt zu jener Grenze hin taten, jenseits derer ein »Fortlaufen«, ja die menschliche Existenz überhaupt, offenbar unmöglich sind.
    1767 versuchte eine Gruppe Raskolniki, etwa siebzig Mann einer äußerst asketischen Richtung, sich auf Kolgujew niederzulassen. »Ein fehlgeschlagenes Unterfangen«, heißt es in der 1895 erschienenen Enzyklopädie von Brockhaus und Efron. »Sie starben aus.« Darüber, wie lange die Einsiedler auf der Insel lebten, ist nichts bekannt. Sie bauten nicht die unsichtbare Stadt Kitesch 32 , sie errichteten keine »sichtbare« Kirche. Bis auf diesen Haufen Fundamentsteine, die das große Kreuz trugen, vereinzelte Grabstellen und das kleine Flüsschen Pokojnizkaja, dessen Name sich wohl von ihrer Ruhestätte herleitet – so unzweideutig an das traurige Ende ihres Unternehmens erinnernd –, ist nichts von ihnen geblieben. Heute lebende Nenzen, die nach alter Tradition im Namen ihrer Vorfahren sprechen, als seien sie selbst leibhaftig Augenzeuge längst vergangener Ereignisse gewesen, beteuern, sie hätten noch einige dieser Eremiten angetroffen. Will man dem Brockhaus-Efron Glauben schenken, so haben Mesener Pomoren erstmals 1780 Nenzen zum Weiden von Renen nach Kolgujew übergesetzt. Die Begegnung müsste demzufolge
dreizehn
Jahre nach der Ankunft der Altgläubigen am Ufer ihrer letzten Wanderschaft stattgefunden haben. Damals gelang es den Nenzen nicht, sich dauerhaft auf der Insel niederzulassen, sie kehrten aufs Festland zurück und brachten ihrem Volk die Kunde von den seltsamen Russen auf Kolgujew. »Wir haben ihnen geraten, Trockenfisch und -fleisch zu essen, aber sie wollten nicht: Gott hat es nicht befohlen.« Indes gingen die Raskolniki auf Wild- und Vogeljagd: Anfang der 1960er Jahre rutschte hier an der Kriwaja ein großes Stück Uferböschung ab, und aus dem Torf stürzten Särge heraus, in denen neben den sterblichen Überresten von Menschen auch Steingewehre und alte Kupfermünzen lagen. Kein Wissenschaftler hat seinerzeit diese Grabstätte untersucht, und jetzt ist es zu spät, das Meer hat sich die Särge längst mitsamt allem Inhalt genommen … Augenscheinlich sind die Altgläubigen nicht gleich an Schwäche gestorben, wurden nicht sofort sämtlich vom Skorbut dahingerafft, sondern haben etliche Jahre auf der Insel zugebracht.

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