Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
– etwas zu mager für eine Sprache, mit der sich kommunizieren ließe. Aber könnte es sie überhaupt geben? Stellen wir uns einen Augenblick vor, wir wären die Abgesandten einer fremden Zivilisation und hätten die Erde zufällig hier auf Kolgujew betreten, unweit unseres Nachtlagers bei der ehemaligen Sägemühle oder auf der Koschka, wo sämtlicher Müll der Welt, von der Strömung zusammengetrieben, an Land gespült wird. Wir würden natürlich zu erfassen versuchen, was auf diesem Planeten, der uns aufgenommen hat, vor sich geht. Wir wüssten nichts von diesem Planeten, würden aber schnell erkennen, dass auf ihm unterschiedlich komplexe Formen des Lebens existieren und dass eine von ihnen besondere materielle Dinge hervorbringt, die
nicht
unmittelbar Folge der Lebensvorgänge sind. Wir würden deren Bestimmung zu begreifen versuchen – und kämen schließlich darauf … Wir wissen, wie gesagt, kaum etwas, fast nichts. Wir haben keine Ahnung, dass 1978 vor Kolgujew ein Leichter namens
Nickel
mit radioaktiven Abfällen versenkt wurde, und folglich haben wir auch keine Kenntnis von den Atom-U-Boot-Stützpunkten um Murmansk oder den Kernwaffentestgebieten auf den benachbarten Inseln von Nowaja Semlja, ganz zu schweigen von den anderen Stützpunkten und Testgebieten in weiter entfernt liegenden Ecken der Welt. Ebenso wenig wissen wir etwas über die politische und militärische Geschichte, generell über die Geschichte des Homo sapiens, wir bilden uns unser Urteil ausschließlich auf Basis dessen, was wir sehen.
Eine Katastrophe. Sie muss gerade geschehen sein oder geschieht noch in diesem Moment. Das ist die einzige Schlussfolgerung, die wir ziehen können, ohne uns etwas vorzumachen, angesichts der menschlichen Daseinsspuren auf diesem Stück Erde, das uns zugefallen ist. Zugegeben, ein sehr subjektives Urteil. Und es ist durchaus wahrscheinlich, dass wir, hätten wir unseren Fuß anderswo auf die Erde gesetzt, eine andere Schlussfolgerung hinsichtlich der menschlichen Aktivitäten gezogen hätten. Aber in unserer Abgesandtenrolle sind wir nun einmal hier gelandet, und so sehen wir den
Irrsinn
der Welt. Er rückt auf den Leib. Er nagt unermüdlich an der Welt, wie eine Ratte. Er schreitet voran, solange niemand da ist, ihn aufzuhalten, und die Erde ohne Götter ist. Zumindest dieser Erdenfleck hier, Kolgujew. Denn die Götter sind nicht dazu da, Sünden zu erlassen oder Wünsche zu erfüllen. Die Götter sind dazu da, die Welt im Gleichgewicht zu halten, damit die Menschen wissen, was wesentlich ist und was nicht, und sie dem Wesentlichen gemäß handeln.
In Ada Rybatschuks Buch, das Kolgujew als herrlichen Erdenfleck schildert, der noch ganz nah am mythischen Zeitenanfang lebt, wird beschrieben, wie die nenzischen Frauen, sobald die Tschums abgebaut und verstaut sind, mit Gänsefedern die Tundra fegen, damit kein Stäubchen am Standplatz zurückbleibt … Dieses ehrfurchtsvolle Verhältnis zur Erde mag nach allem, was zu sehen wir Gelegenheit hatten, als hübsche Erfindung erscheinen. Aber das ist es nicht.
Spuren
eines solchen Weltverhältnisses lassen sich unter dem Schleier unserer Zeit noch deutlich erkennen. In ihren wesentlichen Zügen bei allen Nordvölkern zu finden, sind dies im Grunde Spuren eines einst äußerst reichen mythopoetischen Gewebes, dessen Fäden den Menschen lebendig und unzertrennlich mit allem verbinden, was ihn umgibt.
Trevor-Battye scheint zu seiner Zeit die Nenzen für ein Volk gehalten zu haben, das unter dem Einfluss christlicher Missionare seine eigenen Glaubensvorstellungen verloren hatte. Obwohl ihn die holzgeschnitzten »Götzen« der Samojeden sehr interessierten und er sogar eine Skulptur für die damals beträchtliche Summe von fünf Rubeln kaufte, blieb er doch blind gegenüber der außergewöhnlichen Gabe jenes Mannes, mit dem er drei Monate Seite an Seite lebte, des von mir bereits erwähnten Iwan Purpej. Der doch immerhin der mächtigste Schamane Kolgujews war!
Aus Trevor-Battyes Beschreibung der kleinen Kapelle am Scharok 33 – die übrigens Iwan Purpej gehörte –, nicht zuletzt aus der eher beiläufigen Bemerkung, im Eingangsbereich werde Fischtran gelagert, geht klar hervor, dass den Nenzen das Christentum fremd geblieben war, dass es ihnen vor allem als eine leidenschaftslose, kalte Religion erschienen sein muss. Ich kann in ihrem Verhältnis zum Christentum nicht ein Fünkchen jener leidenschaftlichen Hingabe entdecken, das die Altgläubigen beseelte, als
Weitere Kostenlose Bücher