Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Doch schließlich kam wieder ein Winter, diesmal ein besonders grimmiger, und …. So konnten die letzten einander nicht begraben …
Trevor-Battye, der vor hundert Jahren seinen Fuß auf die Insel setzte, hat kein Altgläubigen-Kreuz gesehen. Demnach muss es damals bereits umgestürzt gewesen sein – denn andernfalls wäre es nicht zu übersehen gewesen.
Die Nenzen wissen auch mit Bestimmtheit, dass die Raskolniki unweit des Kreuzes einen Schatz vergraben haben, und von Generation zu Generation wird weitergegeben, wie die genaue Stelle zu ermitteln sei: Man muss nur exakt darauf achten, wohin zu einem bestimmten Zeitpunkt der Schatten einer Stange von der Größe des Kreuzes weist; aber gefunden wurde der Schatz trotzdem bis heute nicht.
Jetzt, da es auf russischem Boden nur noch eine Handvoll Altgläubiger gibt, scheint das Rätsel des Raskol niemanden mehr zu interessieren. Es besitzt keine Vitalität mehr, keinen Sinn mehr, der ins Fleisch schneidet. Aber dieses Fortlaufen von allem, ohne sich umzuwenden, dieses Davonlaufen, das von den Zersetzungskräften der Geschichte verfälscht und zerrieben wurde – hat es nicht unmerklich den Entwicklungsgang des russischen Charakters zutiefst geprägt, ihm Züge verliehen, die heute beinah verschwunden sind, doch kürzlich noch unseren Stolz ausmachten? Nicht nur, dass der Begriff der individuellen Freiheit unmöglich in einer Rus der Leibeigenen und Staatsbeamten auf kommen konnte, auch die Idee von einem starken, durch nichts zu beschädigenden Glauben, von der Wahrheit, die teurer sei als das Leben, von der
Süße
eines einzig von großer Geistes- und Körperkraft beschützten unsündigen Lebens in äußerster Einfachheit: all dies ist ein kaum fassbares Erbe des großen, in das Nichtsein fortgehenden Volks der Altgläubigen. Eines Volkes, das keine Städte gebaut hat, keine eigenen Universitäten gegründet, keine Akademien, das keine Literatur im eigentlichen Sinne geschaffen hat oder irgendwelche schönen Künste anderer Art, doch Jahrhundert um Jahrhundert seine wunderbaren Söhne in das geschichtliche Russland warf, welches in schweren Momenten mehr als einmal von ihnen gerettet wurde.
Rosanow äußert einen bemerkenswerten Gedanken: »Wenn beim jüngsten Gericht die Russen dereinst gefragt werden: ›Woran habt ihr geglaubt, welcher Sache habt ihr nie abgeschworen, wem habt ihr alles geopfert?‹, vielleicht erwähnen sie dann versuchsweise die Petrinischen Reformen, die ›Auf klärung‹ und noch das eine oder andere, aber zuletzt sehen sie sich, tief bestürzt, gezwungen, das Altgläubigentum zu nennen: ›Hier, ein Teil von uns, der lebte dem Glauben, der übte keinen Verrat, der hat alles geopfert‹ …«
Natürlich spürt man in dem Versuch der Kolgujewer Altgläubigen, ein unsündiges Leben dort zu beginnen, wo die Natur auf mörderische Weise unbarmherzig zum Menschen ist, eine Dimension der Entsagung von allem Irdischen, die vielleicht nur der Verzweiflung vergleichbar ist, oder einen überspannten, beinah schon erschreckenden und für uns selbstverständlich nicht mehr zugänglichen Glauben an den wunderbaren Beistand Christi des Retters. Ein solch glühendes religiöses Empfinden wurde in der christlichen Geschichte wohl nur in Zeiten der Verfolgung erreicht.
Konnte Christus der Retter ahnen, dass Sein Wort weder in Judäa oder Armenien (wohin Fürst Abgar Ihn eingeladen hatte) noch im benachbarten Ägypten, sondern irgendwo am Rande der Welt, an einem Fleck, wo der Boden nur sommers für kurze Zeit auftaut und allein schon deshalb seine Gleichnisse vom Senf korn, dem Weinberg und dem Feigenbaum nur als märchenhafte Allegorie verstanden werden können, Sein Wort als letztgültige, lebensspendende Wahrheit aufgenommen würde und die Menschen, an die Errettung durch Sein Wort glaubend, in den Tod gehen würden?
Es gibt keine Antwort darauf.
Wie kam es, dass Er hierher geriet, auf diese unter frostigen Nebeln verborgene, phantomhafte Insel?
Das Erstaunliche daran ist, dass siebzig Menschen, die durch Tausende von Kilometern und siebzehn Jahrhunderte weltlicher Geschichte von den Ereignissen und Orten im Evangelium getrennt sind, von Seinem Bild und Seinem Wort durchdrungen, bis zu diesen allerunwirtlichsten Gestaden vorstießen, um hier ein paradieshaftes Einödleben zu führen …
Wer waren sie? Verrückte? Heilige? Und haben sie Sein Bild in originaler Gestalt mit hierher gebracht? Denn das Land Israel ist weit, und die Geschichten der
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